Die Abenteuer der Gebrüder Schlagintweit

München - Drei Brüder aus München reisen 1854 nach Indien. Sie besteigen Bergriesen, vermessen Gletscher und bringen 510 Kisten mit Forschungsmaterial heim. Ein Abenteuer, das fast in Vergessenheit geraten wäre. Aber nur fast. Dem Alpenverein sei Dank.
Im Himalaya auf über 5000 Metern glauben die Einheimischen: diese bayerischen Brüder mit dem Namen Schlagintweit sind ein Wunder. Die sind nicht von dieser Erde. So falsch liegen die Einheimischen nicht. Die Geschichte der Schlagintweits ist das vielleicht bewegendste Forscherabenteuer Bayerns.
Es ist Juni 1855, Adolph und Robert Schlagintweit kommen nach einer furchterregend schwierigen Bergtour zurück ins Lager. Sofort umzingeln sie Kaufleute, die mit Getreide spekulieren. Sie wollen am märchenhaften Glück der Brüder teilhaben. „So abergläubisch wie sie waren, gelangten sie zu der Überzeugung, dass wir einen ganz speziellen Glücksstern besitzen müssten“, schreibt Adolph Schlagintweit in einem seiner unzähligen Reiseberichte. Denn ohne Glückstern, nein, ohne Glücksstern ist so eine gigantische Expedition durch Indien und Hochasien, so ein knapp drei Jahre dauerndes Menschheitsabenteuer nicht zu schaffen. Das denken die Leute damals tatsächlich.
Von 1854 bis 1857 sind die drei Gebrüder Schlagintweit aus München, keiner ist bei Reisebeginn über 30 Jahre alt, am anderen Ende der Welt unterwegs. Kaum ein Europäer ist jemals zuvor in die Gebiete vorgestoßen, die die Schlagintweits besucht haben. Teilweise reisen die Brüder gemeinsam, aber immer wieder trennen sich Hermann, Adolph und Robert, um auf eigene Faust loszuziehen. Sie haben eigene Köche dabei, eigene Jäger und Träger, insgesamt sind es bis zu 120 Helfer.
Am Schluss ihrer Forschungsexpedition braucht es eine Karawane an Pferden, Kamelen und Lastenträgern, um alle Besitztümer, alle Forschungsgegenstände und auch den allerletzten Gesteinsbrocken der Schlagintweits auf ein Schiff nach Europa zu verladen. In knapp drei Jahren haben die drei Universalgelehrten 30 000 Kilometer zurückgelegt. Sie haben Pflanzen eingesammelt, hunderte Menschen-, Elefanten- und Krokodilsskelette, Gesteinsproben, Menschenschädel, tibetanische und indische Handschriften, zudem 6000 Gesteinsproben, Schmetterlinge, Fische, Vogelfedern, getrocknete, gepresste Pflanzen und tibetanische Tanzmasken. Sie sammeln alles ein, was sie wissenschaftlich wertvoll finden. Auch ein lebendes Wildeselpaar und zwei Kamele lassen sie auf das Schiff verladen. Die Schlaginweits nummerieren jedes Stück ihrer Sammlung durch. Am Ende der Reise steht eine gigantische Zahl: 14 777. 14 777 Exponate, eingepackt in 510 Kisten. Hinzu kommen 750 selbstgemalte Landschaftsansichten.

Die Sammlung, die tausenden Gegenstände, sagt Kuratorin und Kunsthistorikerin Stephanie Kleidt, „waren ein unglaublicher Mühlstein am Hals der Brüder“. Die Auswertung dauerte Jahrzehnte. Kleidt ist knietief in das Leben der Schlagintweits eingetaucht. Der Deutsche Alpenverein München und das Olaf Gulbransson Museum in Tegernsee planen im Frühjahr 2015 eine Schlagintweit-Ausstellung. Das Material ist gigantisch, Regalmeter um Regalmeter. „Der komplette Wahnsinn“, sagt Stephanie Kleidt. Aber es lohnt sich. Auf die Ausstellung darf man sich freuen. Denn: So eine Reise hat es noch nie gegeben. Wird es nie mehr geben. Sie raubt einem den Atem, noch heute. Drei Brüder erobern die Welt. Drei Brüder im Rausch der Wissenschaft. Einer wird auf der Reise grausam sterben. Ein anderer wird ein Leben lang von dem Abenteuer erdrückt werden.
Aber beginnen wir ganz von vorne: Die Gebrüder Schlagintweit kommen als Söhne des berühmten Münchner Augenarztes Joseph Schlagintweit zur Welt. Ein Hauslehrer, ein leidenschaftlicher Ägyptologe, unterrichtet sie. Schon in jungen Jahren entflammt ihr Feuer für die Wissenschaft – und die Berge. Früh unternehmen Hermann und Adolph ausgedehnte Touren. Sie besteigen als junge Männer den Großglockner und die Wildspitze in den Ötztaler Alpen. Auch am 4618 Meter hohen Monte Rosa in den Walliser Alpen versuchen sie sich. Zusammen mit Bruder Robert und dem vierten Bruder Emil erklimmen sie 1852 die Zugspitze. Die Schlagintweits sind umfassend gebildete Bergsteigerpioniere, sie erforschen Gletscher, machen Temperaturmessungen und bestimmen Baumgrenzen. Kurzum: Sie betreiben Alpenkunde und lernen ihr Handwerkszeug, das später im Himalaya Gold wert sein wird.
Hermann wird Geographie-Professor, Adolph Geologie-Professor. 1849 machen sie in Berlin eine Bekanntschaft, die ihr Leben auf einen Schlag verändern wird. Sie treffen den größten Gelehrten jener Tage: den 80-jährigen, weitgereisten Alexander von Humboldt. „Ihm war klar, dass er in seinem Leben keine Expedition mehr machen wird“, sagt Kuratorin Stephanie Kleidt. „Und dann sitzen da diese drei hoffnungsvollen Bergsteiger vor ihm.“ Humboldt ist beeindruckt von den Brüdern, von der Art, wie sie forschen, von der Art, wie sie denken. Denn: Sie denken wie er – allumfassend.
Der Universalgelehrte stellt sie dem preußischen König Friedrich IV. vor, bei Bayerns König Maximilian II. empfiehlt er sie. Dann besorgt er ihnen einen Auftrag, eine Aufgabe. Die Britische Ostindien-Kompanie, die bedeutendste koloniale Handelsgesellschaft, hat einen Wissenschaftler verloren und sucht dringend jemanden für eine Asien-Expedition. Jemanden, der die Berge im Norden Indiens vermisst, der erdmagnetische Messungen durchführt, der das Klima erforscht, der den Gerüchten nachgeht, dass es am Himalaya Gletscher gibt. Natürlich gibt es da welche, aber das weiß man zu jener Zeit noch nicht. Auch den Mount Everest kennt man noch nicht. Große Teile Asiens sind – aus europäischer Sicht – ein blinder Fleck. Die Schlagintweits sollen das entscheidend ändern.
Am 20. September 1854 stechen Hermann, Robert und Adolph in Southampton in See. Über Alexandria, Kairo, Suez und Aden erreichen sie Bombay. Das Abenteuer beginnt. Herrmann zieht es zuerst in den Nordosten Indiens, nach Darjeeling, Assam und auch nach Bhutan. Adolph und Robert erkunden mit ihrem Tross und ausgerüstet mit modernsten Messgeräten den Nordwesten. In englischen Zeitungen gibt es Proteste gegen die von Großbritannien finanzierte Expedition der Schlagintweits. Das können unsere Wissenschaftler doch genauso gut, heißt es. In Berlin findet man die Reise überflüssig, erzählt Stephanie Kleidt. Man könne doch keine Deutschen losschicken, um sie für die Engländer forschen zu lassen, heißt es aus dem Kultusministerium.
Politisches Geplänkel. Die Schlagintweits haben schon bald ganz andere Sorgen. Die Reise ist voll von Strapazen und Stechmücken, Hermann bekommt eine heftige Malaria, die meisten Karten müssen die Brüder selber erstellen. Aber die drei Bayern schimpfen nicht. Denn: Sie sind im Dienste der Menschheit unterwegs – im Dienste der Wissenschaft und des Fortschritts. Adolph formuliert es so: Es sei ein natürliches Gefühl, „das Menschen veranlasst, die Besteigung hoher Gipfel zu versuchen. Aber es gehört eine gewisse Bildung des Geistes dazu (...). Rohe, unzivilisierte Völker haben niemals das Bedürfnis nach Ersteigung hoher Gipfel.“
Die Schlagintweits sehen Kalkutta, Madras, Tibet, das Karakorum-Gebirge, sie nehmen den Kamet, einen Berg an der indisch-tibetischen Grenze, in Angriff und kommen bis auf 6785 Meter – das ist Höhenrekord zu jener Zeit. Adolph malt den Nanga Parbat und nimmt sogar an einem Pferderennen teil. Die Messdaten der Schlagintweits sind genauer als die von Humboldt. Ihre Forschungsergebnisse teilweise bahnbrechend.
Im November 1856 treffen alle drei Brüder in Rawalpindi im heutigen Pakistan noch mal zusammen. Ein letztes Mal. Das Ende der Expedition naht. Im Juni 1857 sind Hermann und Robert wieder in Berlin – samt ihrer gigantischen Kisten-Sammlung. Bruder Adolph bleibt in Asien, er will weiter nach Turkestan. Aber er wird von Reitern aufgegriffen. Ein Stammesführer hält ihn für einen Spion – und lässt ihn erst erstechen, dann enthaupten. Der hochtalentierte Forscher stirbt mit 28. „Humboldt hat ihn für den besten der drei gehalten“, sagt Kuratorin Kleidt.
Die anderen beiden Brüder sind bei ihrer Heimkehr Berühmtheiten. Zeitungen feiern die Expeditionshelden. Aber schon bald geraten sie als Personen des öffentlichen Lebens in Vergessenheit. Ihre Reise vergessen Robert und Hermann nie. Eh nicht. In einem Brief schreibt Robert: „Das ist unser Lebenswerk gewesen.“
Beide fangen an, die Expeditionsergebnisse auszuwerten. Vier dicke Bände veröffentlichen sie, neun waren geplant. Robert stirbt 1885, Hermann 1882 – beide ehe- und kinderlos. Hermann, der erstgeborene Bruder, sitzt bis zu seinem letzten Atemzug über den Auswertungen. Aber er wird nicht fertig. Die Sammlung verfällt zusehends, Motten machen sich an den präparierten Tieren zu schaffen. Sein Material ist inzwischen Jahrzehnte alt, aber Hermann hört nicht auf. Das, glaubt er, ist er seinen Brüdern schuldig, ist er Humboldt und der Wissenschaft schuldig. Die zeitgenössischen Forscher können mit vielen seiner Ergebnisse nicht mehr viel anfangen. Eine neue Zeit ist angebrochen – die der Profis und der wissenschaftlichen Verästelung.
Die Gebrüder Schlagintweit, diese fast vergessenen bayerischen Helden, sind von einem anderen Schlag. Sie sind vielleicht die letzten ihrer Art, nämlich Universalgelehrte, die den unerschütterlichen Glauben haben, Asien passe in 510 Holzkisten.
Stefan Sessler