„Er hatte keine Angst, entdeckt zu werden“

München - Constanze Winter (Name geändert), 55 Jahre alt, wurde als kleines Mädchen von ihrem Großonkel missbraucht. Jetzt hat sie ein Fachbuch für Betroffene und Angehörige geschrieben.
„Ich habe mich immer so unglaublich geschämt. Ich habe das zugelassen, was man nicht tut. Niemals. Deshalb war ich schlecht und schmutzig.“ So denken nicht etwa Täter, die Kinder sexuell missbrauchen, sondern die Opfer.
Im Interview spricht Winter, die im Raum München wohnt, über das, was ihr angetan worden ist und erklärt, warum sie das Buch geschrieben hat.
-Frau Winter, Sie sagen, Ihre Mutter hat Sie Ihrem Großonkel ausgeliefert.
Ja. Meine Mutter war sehr stark kriegstraumatisiert und mit ihrem Alltag heillos überfordert. Mein Vater hat viel gearbeitet. Mein Großonkel ist auch meiner Mutter hinterhergestiegen. Sie hat sich eingeschlossen und mich seiner „Obhut“ ausgeliefert. Nie hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil in der Gesellschaft die Meinung verbreitet war, dass Kinder ja angeblich vergessen.
-Wie ist Ihr Großonkel überhaupt an Sie rangekommen? Hat er bei Ihnen gewohnt?
Wir lebten in beengten Verhältnissen, zu viert auf 60 Quadratmetern. Mein Großonkel und meine Großtante haben unten gewohnt und wir oben. Mein Großonkel war schon in Rente. Wie alt er war, weiß ich nicht, in meiner Erinnerung war er immer uralt.
-Hat seine Frau nichts bemerkt?
Doch, in der Rückschau ist mir klar: Sie wusste es. Dass mein Großonkel ein Missbraucher war, war allen Frauen in der Familie klar. Aber keine hätte es jemals zugegeben. Wahrscheinlich hat er auch seine eigene Tochter missbraucht, später dann seine Enkelin. Diese Strukturen gab es in verdammt vielen Familien und es gibt sie leider auch heute noch. Der Psychologe Hartmut Kraft erklärt die Nachkriegszeit so: Ich habe nichts gehört, nichts gesehen und nichts zu sagen. Die Angehörigen schauen weg und reden sich ein, dass die kleinen Mädchen selbst Schuld sind.
-Hat ihr Großonkel Sie zu Hause missbraucht, wenn Sie alleine waren?
Nein, nicht nur. Er hatte keine Angst davor, entdeckt zu werden. Die Täter bauen ein Vertrauensverhältnis zum Umfeld auf. Deshalb können sie sich sicher fühlen. Mein Onkel ging zum Beispiel mit mir zum Bieseln ins Gebüsch...
-Er hat Sie zehn Jahre lang missbraucht. Trotzdem haben Sie ihn geliebt.
Ja. Und damit bin ich kein Einzelfall. Ich war ein Kind, das ohne feste Bindung aufgewachsen ist. Und er hat sich sehr um mich gekümmert. Kinder brauchen eine Bindung, um zu überleben. Ich habe dafür einen hohen Preis gezahlt. Als Erwachsener fragt man sich dann natürlich: Was war denn da mit mir los – und schämt sich zu Tode.
-Wie hörte das Ganze dann auf?
Ich hatte lange das Gefühl, ich hätte den Missbrauch selbst beendet. Aber das stimmt nicht. Ich war über zehn Jahre alt und erzählte ihm, dass eine meiner Freundinnen ihre Periode bekommen hatte. Er hatte vielleicht Angst vor einer Schwangerschaft. Wahrscheinlich war ich ihm zu alt – und er hatte inzwischen eine Enkelin.
-Und dann?
Ich hatte es wirklich ganz und gar vergessen. Amnesie kann ja auch Teil des Trauma-Erlebnisses sein. Hätten Sie mich mit 16 Jahren gefragt, ich hätte gesagt, es ist nie etwas passiert. Ich war zwischen 11 und 16 sehr nett zu ihm, und er war nett zu mir. Ich habe das Trauma aus meinem Alltag verbannt, sonst kann man nicht überleben. Ich war ein gut funktionierendes System. Bis zu dem Zeitpunkt, wo es nicht mehr ging.
-Wann war das?
Mit den ersten sexuellen Erfahrungen kamen die ersten Probleme. Aber da war nicht viel an Erinnerung. „Mein Onkel hat nur ein bisschen an mir rumgefummelt“ – das war lange Zeit meine Wahrheit.
-Wann hat die Vergangenheit Sie eingeholt?
Mit Anfang 20. Nach einem Auslandsaufenthalt habe ich eine Zeit lang alleine gewohnt. Das war die Hölle auf Erden. Ich hatte Paranoia, war depressiv. Ich bin in ein Loch gerutscht, hatte massiven Verfolgungswahn, habe mich ein halbes Jahr lang eingesperrt. Ich war akut suizidgefährdet. Plötzlich konnten sich all diese Ängste in mir ausbreiten. Gott sei Dank haben mich damals Freunde bei einer Therapeutin vor die Tür gesetzt. Das war hilfreich.
-Wussten Sie dann, was mit Ihnen los war?
Nein, da wusste ich noch nicht, was mit mir los war. Aber ich habe mich nicht umgebracht, das war ein Erfolg. Geheilt wurde ich erst durch die Traumatherapie, die ich mit Anfang 40 begonnen habe.
-Wie hat Ihnen diese Therapie geholfen?
Durch sie habe ich herausgefunden, dass der Missbrauch angefangen hat, als ich noch keine Sprache hatte. Aber ich habe nie, auch während der Therapie nicht, den Missbrauch nochmal richtig „durchlebt“. Andere setzen auf begleitetes Wieder-Erleben – das war nicht mein Weg. Nicht die Taten sind wichtig für mich mir ging es darum, die Auswirkungen zu heilen. Die Voraussetzung: Ich durfte es mir gegenüber nicht mehr leugnen.
-Wie weit sind Sie gegangen?
Das hört sich jetzt alles vielleicht ein wenig schizophren an – aber es funktioniert. Ich habe Kontakt zu den ganzen alleingelassenen Kindern in mir selbst aufgenommen. Die habe ich abholen wollen. Denn diese verletzten Kleinkinder, die in ihrer Trauma-Kapsel in mir drin saßen, haben das immer noch erlebt. Die musste ich mit Hilfe eines Therapeuten aus ihrem Trauma-Erlebnis befreien. In meiner Phantasie liegen alle diese Kinder jetzt in einem Sanatorium und werden gut versorgt. Früher waren sie in einem Kellerverlies eingeschlossen.
-Können Sie jetzt ein unbelastetes Leben führen?
Ja, ich führe ein sehr gutes Leben. Es ist möglich, auch nach solchen Erlebnissen eine gute Beziehung zu führen. Ich habe einen Mann und einen Sohn. Wir Betroffenen sind nicht nur Opfer, wir sind auch handelnde Menschen. Wir können uns dazu entscheiden, glücklich zu sein. Wenn wir die richtigen Hilfestellungen von außen bekommen.
-Haben Sie Ihrem Mann erzählt, was passiert ist?
Mein Mann hat mich immer begleitet. Für ihn ist das manchmal eine wahnsinnige Belastung. Er weiß Bescheid, aber er würde es nicht aushalten, wenn ich ihm haarklein alles erzählen würde.
-Warum haben Sie ein Buch geschrieben, in dem Sie Ihre Erlebnisse thematisieren?
Ich habe mich gefragt, warum mein ganzes Leben unter diesen Vorzeichen stehen muss. Und dann habe ich festgestellt, dass es vielen Frauen um die 50 ähnlich geht wie mir. Ich wollte beschreiben, was ein Trauma bedeutet. Denn wer es nicht selbst erlebt hat, kann es nicht verstehen. Ich kann mit dem Buch nur eine Ahnung davon geben. Ich will erklären, dass wir Betroffenen nicht verrückt sind, auch wenn es sich so anfühlt. Und die gute Nachricht lautet: Heilung ist möglich!
-Sie wollen, dass auch Täter Ihr Buch lesen.
Ja. Wenn ich nur ein paar erreichen könnte, wäre das wunderbar. Viele Täter denken: „Ich tu’ dem Kind doch nichts Böses, denn ich liebe ja Kinder.“ Aber auch wenn das Kind den Täter liebt – wie ich –, tu’ ich ihm etwas ganz Schreckliches an.
-Was wollen Sie noch erreichen?
Ich will allen Mut machen, denen in ihrer Kindheit etwas Schlimmes passiert ist. Auch mit 50 Jahren lohnt sich eine Therapie noch. Es bedeutet so viel mehr Lebensqualität. Ich stelle meine Sicht der Dinge klar und habe vielleicht die Chance, einige Meschen zu erreichen. Und einigen Betroffenen hilft das. Auch Therapeuten und Kriminalbeamten, die mit missbrauchten Kindern in Kontakt kommen, kann es nützlich sein.
-Was kann man tun, um Missbrauch zu verhindern?
Darüber reden. Angehörige sollten immer Zeit und Ohren für Kinder haben. Missbrauch in Familien ist immer noch ein Tabuthema. Aber ein Großteil der Taten passiert im engen sozialen Umfeld. Das Tabu besetzen Täter für sich, indem sie dem Kind sagen, sie dürfen nicht darüber reden, was passiert. Buben und Mädchen haben ein Gespür dafür, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Und sie merken, wie das Umfeld darauf reagiert, wenn sie Andeutungen machen. Hysterie und falsche Anschuldigungen sind fehl am Platz. Wenn man Verdachtsmomente hat, sollte man sich an Beratungsstellen wenden. Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das bedeutet: Mehr Unterstützung für Familien!
-Ihr Peiniger ist tot. Welches Verhältnis haben Sie heute zu Ihrer Mutter?
Als mein Großonkel gestorben ist, habe ich mit meinen Eltern über den Missbrauch geredet. Mein Vater ist käseweiß geworden und hat gesagt: „Hätt’ ich das gewusst, dann hätt’ ich ihn erschlagen.“ Das hat mir gut getan. Meine Mutter sagte nur, dass sich alles wiederholen muss. Sie ist auf der Flucht nach Deutschland missbraucht worden. Die Reaktion meiner Mutter hat mich damals tief enttäuscht. Aber ich habe keine Rechnung mehr offen, ich trage ihr nichts mehr nach.
Lesung
Constanze Winter liest aus ihrem Buch "Tausend Tode und ein Leben" am Mittwoch, 9. September, 11 Uhr, in der Seidlvilla (Nikolaiplatz 1b) aus ihrem Buch. Am 10. November findet in der Lehmanns Media Buchhandlung (Pettenkoferstraße 18 ) eine weitere Lesung statt.
Das Buch
Constanze Winter: "Tausend Tode und ein Leben: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder - Ursachen, Folgen und Therapie"
ISBN-10: 3170290762