Tatort Kiel: Drei Pluspunkte und ein unnötiger Todesfall

Kiel - Was bewegt ein 17-jähriges deutsches Mädchen dazu, in den Dschihad zu ziehen und einen Mann des IS heiraten zu wollen, den es nur über Skype kennt? Damit setzt sich der neue Tatort aus Kiel heute auseinander.
Ein totes Mädchen wird in der Kieler Förde gefunden. Ihre Klassenkameradin, die 17-jährige Julia (Mala Emde), beschuldigt ihren eigenen Bruder bei der Polizei, das Mädchen ermordet zu haben. Damit setzt sie eine Reaktionskette in Gang, mir der sie selbst nicht gerechnet hatte, denn am Ende steht ihre gesamte Welt Kopf: Julia will mit ihrem alten Leben nichts mehr zu tun haben, sie hat sich nicht nur gegen ihren Bruder gewandt, in dem sie ihn des Mordes bezichtigte, sondern auch von ihrer Mutter abgewendet. Julia ist zum Islam konvertiert und will bald ausreisen, um einen Kämpfer des IS zu heiraten. Sie ist auf dem Weg in den Dschihad. "Borowski und das verlorene Mädchen" heißt der Fall.
Das Schöne: Obwohl sich der Film mit dem Heiligen Krieg und dem Islamischen Staat auseinandersetzt, geht es nicht darum, einen islamistischen Anschlag in Deutschland zu verhindern. Sondern es geht um die eigentlich einfache Frage: Warum? Warum will Julia keine Zeit mehr mit ihren Freundinnen verbringen? Warum verschleiert sie sich? Warum sagt sie "Ja" zu einem Mann, der sie über Skype darum bittet, seine Frau zu werden?
Tatort aus Kiel: "Alle Antworten im Islam gefunden"
- Pluspunkt: Die künstlerische Lösung. Der Tatort aus Kiel beantwortet diese Fragen - zumindest teilweise - auf eine künstlerische Art: Julia spricht immer wieder aus dem Off und liest einen Brief vor, den sie ihrer Mutter schreibt: "Liebe Mama, wenn du das hier liest, werde ich nicht mehr hier sein." Ein Grund für Julias Sinneswandel liegt nämlich in ihrer eigenen Familiengeschichte verborgen. Das Mädchen aus Deutschland erlebt etwas, das ihr jeglichen Halt nimmt. In dieser Lebensphase lässt sie sich von Salafisten anwerben, die ihr versprechen, dass bald alles besser wird. Ihre persönliche Vertraute in der Moschee, Amina Jaschar (Sithembile Menck), sagt: "Ich habe auf alle meine Fragen im Islam Antworten gefunden?" Zum Beispiel: Warum bin ich auf der Welt?
- Minuspunkt: Die Mitrate-Möglichkeiten. Diese künstlerische Lösung hätte dem Tatort völlig gereicht. Doch weil der Mordfall lediglich Auslöser dafür ist, dass Borowski (Axel Milberg) und Sarah Brandt (Sibel Kekilli) auf das 17-jährige Mädchen aufmerksam werden, mussten offensichtlich ein paar Szenarien angeboten werden, damit der Zuschauer mitraten kann, warum ihre Klassenkameradin tot in der Förde getrieben hatte: Da wird nach einem Drogenversteck im Wald gesucht. Dann geht es um eine junge Mutter, die Telefonsex macht, während sie ihr Baby füttert. Dann schlagen Flüchtlinge ihr Lager im Polizeipräsidium auf und ein Flüchtling macht Sarah Brandt einen Heiratsantrag, als die Kommissarin gerade auf dem Weg zur Toilette ist. Klar, es ist das "Whodunit" des klassischen Krimis: Wer ist der Mörder? Doch in "Borowski und das verlorene Mädchen" ist es schlicht völlige Überfrachtung. Denn wer das Mädchen aus der Förde ermordet hat, ist am Ende egal, die Aufklärung bringt keinen Aha-Moment. Wahrscheinlich haben sich die Schreiber gedacht, dass im Tatort eben ein Mord passieren muss. Man will aber nur wissen, warum eine 17-Jährige in den Dschihad zieht.
- Pluspunkt: Islam ist nicht gleich Islamismus. Was der Kieler Tatort wieder grandios schafft: Islam und Islamismus werden nicht vermischt, sondern klar voneinander abgegrenzt. Was ist der Unterschied zwischen gläubigen Menschen, die in einer Moschee zu Allah beten, und salafistischen Eiferern, die für den Islamischen Staat morden und vergewaltigen? In einer relativ kurzen Szene wird das mit einfachsten Mitteln perfekt dargestellt.
- Pluspunkt: Der Schluss. Das Ende von "Borowski und das verlorene Mädchen" ist überraschend, unerwartet und intensiv.
Danach bleibt die Frage, wie realistisch das Szenario ist. Marwan Abou Taam ist Fachberater beim Tatort. Der Islamwissenschaftler, Politologe und Terrorismusexperte beim Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz sagt: "Wir kennen eine ganze Reihe junger Frauen mit europäischem Hintergrund, die sich dem Islamischen Staat angeschlossen haben. Darunter sind Mädchen aus Österreich und aus Ostdeutschland, die keinen Migrationshintergrund haben."
Genau das, sagt er, wird im Tatort gut dargestellt. "Der

Film thematisiert die Ursachen und Mechanismen ihrer Radikalisierung und zeigt sehr realitätsnah, wie die Mädchen von Seelenfängern rekrutiert werden. Sie machen ihnen in einer konkreten persönlichen Konfliktsituation Angebote, die ihre Lage scheinbar verbessern. Islamisten gehen sehr rational vor. Sie wissen, dass sie hier ein leichtes Spiel haben. Der Film gibt das gut wieder."
Das Ermittlerduo Axel Milberg und Sibel Kekilli ist natürlich wie immer überragend. Kürzlich hatte die Bild spekuliert, ob Kekilli wegen ihres internationalen Erfolges - unter anderem in "Game of Thrones" - möglicherweise bald keinen Tatort mehr drehen könnte. Wär' schade.
Tatort aus Kiel am Sonntag in der ARD und auf Twitter
"Borowski und das verlorene Mädchen" läuft am Sonntag, 6. November, um 20.15 Uhr in der ARD und ist danach 30 Tage lang in der Mediathek abrufbar.
Außerdem haben Sie natürlich die Möglichkeit, sich der Twitter-Gemeinde anzuschließen und parallel zum Film ihre Meinung zum neuen Fall aus Kiel kundzutun: Das können Sie unter dem Hashtag #Tatort machen und das Erste auf seinem Profil (@Tatort) verfolgen.
Tatort: Das waren die vergangenen Fälle
"Fangschuss" (Tatort aus Münster), "Borowski und das dunkle Netz" (Tatort aus Kiel), "Nachtsicht" (Tatort aus Bremen), "Tanzmariechen" (Tatort aus Köln), "Der scheidende Schupo" (Tatort aus Weimar), "Schock" (Tatort aus Wien), "Wacht am Rhein" (Köln-Tatort) "Land in dieser Zeit" (Frankfurt-Tatort), "Klingelingeling" (München-Tatort), "Wendehammer" (Frankfurt-Tatort), "Taxi nach Leipzig" (1000. Tatort-Jubiläum), "Echolot" (Bremen-Tatort), „Die Wahrheit“ (München-Tatort), „Zahltag“ (Dortmund-Tatort), „Der König der Gosse“ (zweiter Fall aus Dresden), "Feierstunde" (Tatort Münster mit Jan Josef Liefers und Axel Prahl), "Wölfe" (Polizeiruf mit Matthias Brandt), "Und vergib uns unsere Schuld" (Polizeiruf mit Matthias Brandt), "Wir - Ihr - Sie" (Berlin-Tatort), "Das Recht, sich zu sorgen" (Franken-Tatort), "Fünf Minuten Himmel" (Freiburg-Tatort), "Mia san jetz da wo's weh tut" (Jubiläumsfall München-Tatort), "Ein Fuß kommt selten allein" (Münster-Tatort), "Der Preis der Freiheit" (Polizeiruf des RBB).
pak