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Energiekrise: Waren die Warnungen vor den Folgen eines Stopps russischer Gaslieferungen übertrieben?

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Von: Prof. Oliver Holtemöller

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Prof. Oliver Holtemöller ist stellvertretender Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). © Imago/Litzka
Prof. Oliver Holtemöller ist stellvertretender Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). © Imago/Litzka © Michael Kappeler

Die Sorge vor den möglichen Folgen von Liefer-Einschränkungen für russisches Gas haben im Vorjahr für heftige Debatten gesorgt. Vor allem das Schreckensszenario einer Gasmangellage befeuerte die Diskussion. Doch nun hellt sich die Lage auf, schreibt IWH-Konjunkturchef Prof. Oliver Holtemöller im Gastbeitrag und nennt die wichtigsten Gründe.

Als Russland im Februar 2022 die Ukraine angriff, stand die Frage im Raum, welche Konsequenzen ein Stopp russischer Gasimporte für die deutsche Wirtschaft haben würde – sei es, weil ein Embargo seitens der Europäischen Union verhängt wird, sei es, weil Russland die Lieferungen einstellt. Die Bandbreite der Schätzungen, wie das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland auf einen Stopp der Gaslieferungen aus Russland reagieren würde, war groß. Sie reichte von einem „handhabbaren“ Rückgang um wenige Prozent bis zu zweistelligen Prozentwerten.

Die Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2022 veranschlagte die BIP-Veränderung für diesen Fall im Jahr 2022 bei +1,9 Prozent (-0,8 Prozentpunkte gegenüber Basisszenario ohne Importstopp) und bei -2,2 Prozent (-5,3 Prozentpunkte) im Jahr 2023; dabei wurde unterstellt, dass eine etwaige Gasmangellage erst in den ersten Monaten des Jahres 2023 eintreten würde, sodass im Jahr 2022 vor allem Preis- und Erwartungseffekte wirken.

Stimme der Ökonomen

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In unserer neuen Reihe Stimme der Ökonomen liefern Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler in Gastbeiträgen Einschätzungen, Einblicke und Studien-Ergebnisse zu den wichtigsten Themen der Wirtschaft – tiefgründig, kompetent und meinungsstark.

Hintergrund der sehr verschiedenen Einschätzungen sind unterschiedliche Annahmen über wichtige Einflussfaktoren. So war unklar, wann genau ein solcher Lieferstopp eintreten würde und wie groß zu diesem Zeitpunkt die Gasreserven in den Speichern sein würden. Auch war es schwierig abzuschätzen, in welchem Umfang und mit welcher Geschwindigkeit Gas in der industriellen Produktion substituiert werden kann.

Ferner hängt der Gasverbrauch der privaten Haushalte stark vom Wetter ab, sodass sich Szenarien für einen sehr kalten Winter grundlegend anders darstellen als für einen milden Winter. Die Effekte sind nämlich keineswegs stetig, denn eine Gasmangellage, in der die Gasnachfrage die lieferbare Menge übersteigt und daher eine staatliche Rationierung mit Abschaltung von großen industriellen Verbrauchern erfolgt, ist ganz anders einzuordnen als eine Situation, in der der Gasverbrauch ein wenig und vor allem mit hinreichendem Planungsvorlauf eingeschränkt wird, weil Gas teurer geworden ist.

Tatsächlich liefert Russland seit September 2022 kein Erdgas mehr nach Deutschland; seit Juni 2022 waren die Lieferungen bereits deutlich reduziert. Berücksichtigt man jedoch die zusätzlichen Gasimporte aus anderen Ländern und die reduzierten Weiterleitungen in andere Länder, so stellt man fest, dass die Netto-Importe von Erdgas nach Deutschland im Jahr 2022 (Januar bis November) in etwa auf dem Niveau der Vorjahre lagen; d.h. es hat bislang keine physische Gasmangellage gegeben.

Deutsche Wirtschaft wächst 2022 trotz Gas-Lieferstopp

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung blieb indes weitgehend stabil, das Bruttoinlandsprodukt legte im Jahr 2022 um 1,9 Prozent zu. Diese Beobachtung könnte dazu verleiten, die Warnungen vom Frühjahr 2022 als zu pessimistisch und übertrieben anzusehen. Dem lässt sich entgegenhalten, dass eine physische Gasmangellage mit staatlicher Rationierung bislang ausgeblieben ist, sodass die tatsächliche Entwicklung auf anderen Grundlagen basiert als einige der Risikoszenarien.

Dazu haben Substitutionseffekte beigetragen, etwa dadurch, dass gasintensive Vorprodukte aus dem Ausland importiert werden, dass alternative Energieträger eingesetzt werden oder dass die Produktion in gasintensiven Bereichen deutlich gedrosselt wurde, während sie u.a. aufgrund der Erholung von der Pandemie in anderen Bereichen spürbar ausgeweitet wurde. Insgesamt hat somit der Gasverbrauch abgenommen.

Dass sich nun auch die Erwartungen für das kommende Jahr aufgehellt haben, liegt daran, dass die Energierohstoffpreise wieder von ihren Höchstständen gesunken sind, dass Kaufkraftverluste bei privaten Haushalten durch vielfältige staatliche Eingriffe gemindert werden und dass die Gasspeicherbestände bisher auch im Winter kaum gesunken sind.

Deutschland kommt wohl um Gasmangellage herum

Somit ist eine Gasmangellage in diesem Winter sehr unwahrscheinlich geworden, und viele Institutionen haben zum Jahresende ihre Prognosen für das Jahr 2023 wieder etwas angehoben. Insgesamt lässt sich aber nicht sagen, dass die Risikoszenarien durch die Bank weg übertrieben waren. Die Gemeinschaftsdiagnose lag im Frühjahr 2022 mit der Prognose von 1,9 Prozent BIP-Zunahme im Jahr 2022 bei einem Importstopp russischen Erdgases jedenfalls genau richtig.

Zum Autor: Prof. Dr. Oliver Holtemöller ist stellvertretender Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und Professor für Volkswirtschaftslehre, insb. Makroökonomik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

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