Vorletzte Zeche im Ruhrgebiet schließt

Marl - Die vorletzte Zeche des Ruhrgebiets schließt. Eine Stadt, die fast alles dem Bergbau zu verdanken hat, muss von der Förderung Abschied nehmen. Lehrstellen, sichere Jobs und Identität gehen verloren.
Fast 500.000 Menschen arbeiteten einst an der Ruhr im Bergbau. Nur 7300 Stellen sind noch übrig. In Marl im Norden des Ruhrgebiets schließt nun zum Jahresende die vorletzte Zeche der Region, „Auguste Victoria“ - nach mehr als 110 Jahren Bergbau in der Stadt. Bis Ende 2018 wird der hoch subventionierte Steinkohlenbergbau in Deutschland ganz eingestellt.
„Viele Jobs und Lehrstellen verschwinden - das tut weh“, sagt Marls Bürgermeister Werner Arndt (SPD) bei einer Bürgerversammlung im Pfarrheim St. Barbara. Für die Stadt mit rund 86 000 Einwohnern beginnt ein mühsamer und langwieriger Umbauprozess. Dabei geht es nicht nur um verlorene Arbeits- und Ausbildungsplätze, sondern um die Identität. Die Zeche hat Marl seit 1905 tief geprägt. Über Generationen gibt es kaum eine Familie ohne einen oder mehrere Kumpel. Die Stadt muss sich neu finden. „Der Bürgermeister sagt aber weiter Glückauf“, sagt sein Sprecher geradezu trotzig.
Ein riesiges Zechengelände von fast 90 Hektar mit eigenem Hafen wird frei, wenn nach der letzten Schicht auf „AV“ am 18. Dezember der Abbau endet und die Grube und die Gebäude bis Mitte 2016 ausgeräumt sind. Straßen müssen gebaut und Wasserrohre verlegt werden. Frühestens 2020 könne die Vermarktung der Flächen beginnen, sagt der Marler Wirtschaftsförderer Manfred Gehrke. Erst dann gibt es wieder neue Stellen - aber bestimmt keine 3500 sicheren Jobs mit guter Bezahlung, wie sie die Zeche in den vergangenen Jahren angeboten hatte.
Für Marl ist der Neubeginn eine Überlebensfrage. Denn die Stadt hat zwar mit dem Chemiepark und Evonik einen zweiten wichtigen Arbeitgeber, aber die Arbeitslosigkeit liegt mit um die zwölf Prozent trotzdem deutlich über dem Landesschnitt. Tausende Jobs fehlen - die Beschäftigungsquote der Emscher-Lippe-Region zählt zu den niedrigsten bundesweit. Und jeder zweite Jugendliche auf Lehrstellensuche ist im Kreis unterversorgt, sagt Bürgermeister Arndt.
Handwerker und Logistikbetriebe
Für den Neustart haben sich die Wirtschaftsförderer einen flotten Titel ausgesucht: „Die neue Victoria“ heißt das Projekt zur Neuentwicklung der Bergwerksfläche, die über einen Bahnanschluss verfügt und nahe der Autobahn 52 liegt. 1000 neue Arbeitsplätze peilt die vom Land finanzierte Machbarkeitsstudie an - als Fernziel.
Im Norden, wo das Gelände an den Wesel-Datteln-Kanal angrenzt, wollen die Planer Logistikbetriebe ansiedeln. Im Süden wegen der Nähe zu Wohnsiedlungen kleinere Handwerksbetriebe, die wenig Lärm produzieren. Die gewaltige Kohlenmischhalle in der Mitte des Geländes wird nach den Planungen eine Außenstelle des Bochumer Bergbaumuseums, allerdings mit streng begrenzter Besucherzahl.
Die Zeche liegt nämlich direkt neben dem Chemiepark, in dem täglich mit gefährlichen Gütern gearbeitet wird. Altenheim, Kulturzentrum oder Gastronomie fallen deshalb aus, wie Gehrke sagt. Alle Planungen, die den Chemiepark als verbleibenden wichtigsten Arbeitgeber der Stadt einschränken würden, sind tabu. Und die Anwohner sorgen sich, ob die Ausbaupläne nicht zu viel Verkehrslärm produzieren.
In der Marler Zeche mit dem spektakulären Doppelbockturm arbeiten die Kumpel derweil bis zum letzten Tag so normal wie möglich weiter und verdrängen das nahende Ende. „Zur Abschiedsfeier geh ich nicht hin“, sagt der Steiger Holger Stellmacher, der schon vor einigen Wochen von Marl an die bis Ende 2018 laufende Zeche Prosper in Bottrop versetzt wurde.
dpa