Allerheiligen 1999: Das Amoklauf-Trauma von Bad Reichenhall mit fünf Toten

Vor 20 Jahren tötete ein 16-Jähriger in Bad Reichenhall vier Menschen und sich selbst, fünf weitere überlebten schwer verletzt. Der Kurort tut sich schwer mit der Erinnerung an den Amoklauf, der alle erschütterte.
Bad Reichenhall – Als der Notruf eingeht, ist Rudi Lorenz auf dem Weg in die Kantine des Reichenhaller Kreisklinikums. Er und seine Kollegen von der Bereitschaftswache des Roten Kreuzes essen häufig im Krankenhaus, die Wache ist nur ein paar hundert Meter entfernt. Es ist um die Mittagszeit an Allerheiligen, ein Montag im Spätherbst mit strahlend blauem Himmel, und der 16-jährige Martin P. feuert aus einem Nachbarhaus wahllos auf Passanten. Ein Ehepaar stirbt auf der Straße. Einen Patienten der Klinik tötet der Berufsschüler mit einem Kopfschuss. Mehrere Menschen liegen schwer verletzt auf der Straße vor der Klinik.
„Wir haben das Knallen schon auf der Wache gehört“, sagt Rudi Lorenz heute. „Aber wir konnten es nicht zuordnen.“ Sie halten den Lärm für Böllerschüsse, nichts Ungewöhnliches in der Region. Lorenz ist schon im Klinikum, als klar wird, dass in dem beschaulichen Kurort im Berchtesgadener Land ein Amoklauf geschieht. Während ein Arzt und eine Schwester erfolglos versuchen, über den Vordereingang zu den Opfern zu gelangen, setzt sich Rudi Lorenz in seinen Rettungswagen und fährt von der Notaufnahme in die Schusslinie. „Da lagen drei Verletzte etwa 30, 40 Meter von mir entfernt“, erzählt er. „Und der Schütze hat immer weiter draufgehalten.“
Amoklauf von Bad Reichenhall: Stoiber schickte eine gepanzerte Limousine
Die drei Verletzten sind der „Tatort“-Kommissar Günter Lamprecht, die Schauspielerin Claudia Amm und Produktionsassistent Dieter Duhme, der sie gefahren hat. Das Paar ist auf Theatertournee, am Vorabend haben sie das Stück „Vaterliebe“ gespielt. Lamprecht hat Knieschmerzen, sie bringen ihn zur Untersuchung, um 12 Uhr ist er einbestellt.
Beim Aussteigen wird erst der Schauspieler in den Arm getroffen, dann seine Lebensgefährtin in Brust und Bauch und Dieter Duhme in die Hände. Alle drei liegen verletzt am Boden, „Herr Lamprecht rief laut um Hilfe“. Als Rudi Lorenz die Verletzten erreicht, dröhnt es aus dem Funkgerät, das neben der lebensgefährlich verletzten Claudia Amm liegt: „Sofort raus aus der Gefahrenzone!“ Lorenz denkt nicht dran. „Am Arsch leckt’s mi“, raunt er und versorgt die Schauspielerin weiter. Beamte in schusssicheren Westen geben ihm Deckung.
Die Polizei sperrt die Straße, sie muss sich zurückziehen, drei Verletzte und zwei Tote bleiben zurück. Lange Zeit liegen sie da. Erst als der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber, der zufällig in der Region ist, seinen gepanzerten Dienst-BMW nach Bad Reichenhall schickt, werden die Opfer aus dem Kugelhagel geholt.
Inzwischen fallen keine Schüsse mehr. Es dauert aber noch Stunden, bis die Polizei das Haus der Familie P. stürmen kann. Dort finden sie die 18-jährige Schwester des Schützen tot im Flur. Daniela P. wurde mit mehreren Schüssen in Brust und Kopf regelrecht hingerichtet. Auch der Amokläufer ist tot. Die Polizei findet Martin P. in der Badewanne. Er hat sich mit einem Gewehr in den Kopf geschossen, die Waffe hat er immer noch in der Hand.

Später stellt sich heraus, dass Martin P. den Waffenschrank seines Vaters aufgebrochen hat. 50 Schüsse feuerte er aus vier Waffen ab. Der Schüler, der kaum Freunde hatte und in der Schule gehänselt wurde, war ein Einzelgänger und galt als Waffennarr. Er klebte Nazi-Bildchen in sein Hausaufgabenheft, an der Wand in seinem Zimmer prangte ein Hakenkreuz. Warum er an diesem 1. November ausrastete, seine Schwester, drei weitere Menschen und sich selbst tötete, ist bis heute nicht geklärt.
„Es war das erste Mal, dass das Phänomen bei uns auftrat“, sagt der heutige Münchner Polizeipräsident Hubertus Andrä, der damals den Einsatz leitete. „Natürlich habe ich diesen Tag noch im Kopf.“ Zuerst glaubte man, der Vater schieße – weil er eine gewisse Nähe zu Waffen gehabt habe. Bis er mit seiner Frau an der Absperrung auftauchte. „Da war klar, dass der Sohn der Schütze sein muss.“
Ein Mahnmal zur Erinnerung an die Opfer wie an den Schauplätzen ähnlicher Taten gibt es in Bad Reichenhall, das in den vergangenen Jahren mehrmals in Schockstarre fiel, nicht. Auch vom Jahrestag merkt man im Ort wenig: Die Stadt hat kein Gedenken geplant. Retter Rudi Lorenz sagt: „Für mich ist die Sache abgeschlossen, es ist schon so lange her.“ Lorenz ist 62 und leitet heute die BRK-Wache. Anders als die Opfer Lamprecht und Amm, die noch viele Jahre mit den Folgen des Amoklaufs kämpften, hat er die Ereignisse verarbeitet.
„Ich habe keine Sekunde darüber nachgedacht, ob mir was passieren könnte“, sagt er. Ein Bekannter von Claudia Amm hat ihn für die Bayerische Rettungsmedaille vorgeschlagen. Er bekam sie, „so ein Blechding. Das brauche ich nicht.“ Viel schöner sei die Begegnung gewesen, die er später mit den Schauspielern hatte. Er wurde zu einer Fernsehsendung von Alfred Biolek eingeladen, bei der auch Claudia Amm und Günter Lamprecht Gäste waren. „Alle Einladungen davor habe ich ausgeschlagen“, sagt er. Claudia Amm brach in Tränen aus, als sie sich sahen, umarmte ihn heftig. „Dass sie überlebt hat, war mir viel wichtiger als jede Auszeichnung.“
20 Jahre später ist es auch in Kitzbühel zu einer erschreckenden Tat gekommen: Der Täter (25) erschoss seine Ex-Freundin und ihre Familie.
Kathrin Brack/Sabine Dobel