Update vom 4. November, 08.10 Uhr: Friedrich Pürner, Leiter eines bayrischen Gesundheitsamts, hat in mehreren Interviews die Corona-Strategie der Staatsregierung in Bayern kritisiert und wurde strafversetzt. Nun äußert er sich exklusiv gegenüber unserer Redaktion: „Ich weiß nicht, was man gegen mich in der Hand hat“, sagte er dem Münchner Merkur*.
„Man hat nicht mit mir darüber gesprochen.“ Das Gespräch kürzlich im Gesundheitsministerium sei seiner Meinung nach nur pro forma gewesen. „Meine Versetzung war längst vorbereitet.“ Noch dazu sei es „erstaunlich, während der Hoch-Corona-Pandemie einen Gesundheitsamtsleiter zu versetzen“.
Das, so sagt Pürner, bringe doch nur noch mehr „Unsicherheit und Unruhe rein“. Aber er sei mit sich im Reinen: „Mir geht es gut, ich weiß, was ich tue und was mich meine Karriere kosten kann.“ Nur: „Es kann nicht sein, dass ich meine Meinung nicht äußern darf.“ Für das Landratsamt Aichach-Friedberg kommt der Wechsel Pürners überraschend. Das sagte ein Sprecher dem BR.
Update vom 3. November, 14.01 Uhr: Der wegen seiner Corona-Äußerungen in Ungnade gefallene Leiter des Gesundheitsamts Aichach-Friedberg, Dr. Friedrich Pürner, wird strafversetzt. Er kommt an ein Landesamt nach Oberschleißheim. Dies erfuhr der Münchner Merkur aus sicherer Quelle. Erst Montag vergangener Woche war Pürner zu einem Gespräch bei der Regierung von Schwaben einbestellt worden. Anlass war unter anderem ein Interview im Münchner Merkur (siehe unten), in dem der Arzt die Validität der Inzidenzzahl-Grenzwerte angezweifelt hatte. Nun wird er - mitten in der Krise - strafversetzt.
Verfolgen Sie das Corona-Geschehen in Bayern in unserem aktuellen News-Ticker.
Update, 27. Oktober: München – Nach mehreren Interviews zur Corona-Politik musste der Leiter des Gesundheitsamtes Aichach-Friedberg, Dr. Friedrich Pürner, am Montag (26. Oktober) zum Rapport bei der Regierung von Schwaben antreten. „Es war ein Gespräch auf fachlicher Ebene“, teilte der Pressesprecher der Behörde in Augsburg anschließend wortkarg mit. Über den Verlauf dieses Termins wurde Stillschweigen vereinbart. Klar ist aber: Pürner bleibt im Amt – ob das mit Auflagen verbunden ist, war gestern unklar. Anzunehmen ist, dass er an das Mäßigungsgebot für Beamte erinnert worden ist.
Der Arzt hatte unter anderem im Gespräch mit dem Münchner Merkur erklärt, er halte nichts von Masken an Grundschulen. Sie seien nicht wirksam, die Schutzwirkung sei „nicht nachgewiesen“. Auch seien die Inzidenzen 35 und 50 pro 100.000 Einwohner „willkürlich“ festgelegt, weil unberücksichtigt bleibe, wie viele Infizierte tatsächlich auch erkranken. Gegenüber der „Aichacher Zeitung“ hatte er zuletzt noch einmal nachgelegt: „Eine Gesellschaft muss Diskurs aushalten – auch Markus Söder“. Dabei legte er Wert darauf, dass er von Corona-Leugnern nichts halte. Er lasse sich nicht instrumentalisieren. Mehrere Ärzte hatten sich zuletzt mit ihm solidarisiert.
Kanzlerin Merkel verkündete mit Ministerpräsident Markus Söder einen Corona-Lockdown für November. Heute tagt das bayerische Kabinett über die Umsetzung im Freistaat.
Pürner legte auch auf Twitter immer wieder nach und machte deutlich, dass er sich den Mund nicht verbieten lassen will. Unter anderem twitterte er zu den jüngsten umstrittenen Äußerungen des Ärztepräsidenten Klaus Reinhardt: „Auch wenn der Ärztepräsident zurückrudert; ich bleibe bei meiner Aussage. Eine ausreichende Schutzwirkung von Alltagsmasken (Community-Masken) ist nicht evidenzbasiert nachgewiesen.“
An dem Termin in Augsburg sollte ursprünglich auch der Corona-Staatssekretär im Gesundheitsministerium, Klaus Holetschek (CSU), teilnehmen, der jedoch aus Termingründen verhindert war. So war nur ein Beamter „auf Fachebene“ bei dem Gespräch zugegen.
Das Interview vom 19. Oktober lesen Sie in voller Länge hier: Seit Corona die Welt beschäftigt, hat Dr. Friedrich Pürner (53) mehr als 500 Überstunden angehäuft. Der Facharzt und Epidemiologe leitet das Gesundheitsamt Aichach-Friedberg. Die Fragen und Sorgen der Bürger werden immer mehr. Der bayerische Beamte sieht viele Maßnahmen der Staatsregierung kritisch und versucht, Ängsten entgegenzusteuern.
Mit steigenden Fallzahlen steigt doch auch der Druck zum Handeln?
Pürner: Ja, die Zahlen steigen. Aber wir rechnen nur mit der Summe der positiv Getesteten, über die Erkrankten wissen wir nichts. Würde die Zahl der Schwerkranken signifikant steigen, müssten wir etwas unternehmen. Aber gehandelt wird derzeit nur, weil wir lediglich positive Befunde haben. Entscheidend für uns Epidemiologen ist: Wie krankmachend ist eine Erkrankung? Covid-19* ist eine Infektion. Es wird immer Menschen geben, die daran sterben oder krank werden. Auch Folgeschäden sind derzeit nicht ausgeschlossen. Vor allem Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen sind Risikogruppen. Allgemein ist das Risiko, an Corona schwer zu erkranken, relativ gering, daran zu sterben auch. Das ist nicht Ebola.
Die Politik versucht, mit einem Ampelsystem* die Lage in den Griff zu kriegen. Wie beurteilen Sie die Inzidenzwert-Strategie?*
Pürner: Diese Strategie ist nicht richtig. Die Inzidenzen 35 und 50 pro 100.000 Einwohner sind willkürlich gewählt, außerdem besteht der Inzidenzwert nur aus allen Positiv-Getesteten. Man weiß nicht, wie viele Personen Symptome haben und damit krank sind. Es wäre klug, auf diejenigen zu schauen, die das Gesundheitssystem belasten.
Verstehen Sie die Angst der Menschen?
Pürner: Ich verstehe sie. Hier wird eine Ur-Angst geweckt, die Ur-Angst vor Krankheit, Siechtum und Tod. Wir haben einen unsichtbaren Gegner. Aufgabe der Politik wäre es: Ängste nehmen, nicht Panik schüren. Das Gegenteil ist der Fall: Wir haben Panik-Stimmung. Ich arbeite an der Basis, wir erleben es, dass Bürger aus Angst betteln, in Quarantäne geschickt zu werden. Bei den Leuten entsteht – durch die ständige Überdramatisierung und den Alarmismus – ein Erschöpfungszustand. So verspielt man Vertrauen. Auch Kinder bleiben auf der Strecke.
Inwiefern?
Pürner: Es ist schon fragwürdig, wie man mit unseren Kindern umgeht! Wir hatten schon weinende Eltern am Telefon, deren Kinder von Lehrern gerügt wurden, weil sie sich nicht an Corona-Regeln gehalten haben und gefragt wurden: Willst du, dass Oma und Opa sterben? Das macht was mit unseren Kindern. Ich will nicht, dass meine Kinder mit Ängsten aufwachsen.
Sie sehen die Maskenpflicht an Schulen kritisch. Warum?
Pürner: Von Maskenpflicht an Schulen und Kitas halte ich fachlich nichts. Es gibt dazu auch keinen evidenzbasierten Beleg zur Wirksamkeit. Kinder nehmen wenig am Infektionsgeschehen teil. Wenn wir infizierte Schüler finden, sind die Symptome minimal. Generell ist die Schutzwirkung von Community-Masken, wie sie die Mehrheit trägt, nicht nachgewiesen. Mit den Community-Masken hat man ein Mittel erfunden, das nicht mehr ist als ein Symbol der Solidarität.
Welche Maßnahmen wären Ihrer Ansicht nach an Schulen sinnvoll?
Pürner: Lehrer sollten das Thema Hygiene behandeln. Damit Schüler Händewaschen, Einmal-Handtücher verwenden, nicht Hände schütteln, auf Abstand gehen, wenn sie rotzen oder husten und dass sie etwa bei starker Erkältung oder Fieber zuhause bleiben. Wenn ich Herrn Piazolo beraten dürfte, würde ich ihm sagen: Lassen Sie die Schulen offen, befreien sie die Schüler vom Mundschutz, lassen Sie lüften, aber nicht andauernd. Wir brauchen Lehrer mit Zuversicht. Lehrer, die sagen: Wir kriegen das hin.
Sie fordern einen maßvolleren Weg in der Corona-Politik, wie könnte der aussehen?
Pürner: Die Situation ist verfahren. Am Anfang waren diverse Maßnahmen schon gut. Aber Ende April/Anfang Mai gab es einen Zeitpunkt, wo die Zahlen zurückgingen. Das primäre Ziel, dass Krankenhäuser nicht mehr überlastet waren, wurde erreicht. Wir müssen mit Corona leben. Daran wird auch eine Impfung nichts ändern. So schnell wird es keine geben, und einen 100-prozentigen Schutz bietet keinerlei Impfung. Das heißt, wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben. Wir müssen es als allgemeines Lebensrisiko begreifen. Das Virus ist da, es wird bleiben. Die Politik sollte sich mit Dramatik zurückhalten und den Menschen sagen: Ihr müsst mit dem Virus leben!
Mit Ihrem Appell für einen gemäßigteren Kurs in der Pandemie legen Sie sich mit Ihrem obersten Dienstherrn an. Warum machen Sie das?
Pürner: Ich will Vorbild sein – als Arzt, als Amtsleiter und als Vater von drei Söhnen. Ich möchte fachlich aufklären, den Menschen die Angst nehmen. Auch wenn ich mit meinen Äußerungen möglicherweise meine Beamten-Karriere aufs Spiel setze. Ich bin fachlich gut ausgebildet und weiß, wovon ich rede. Nach ersten Berichten über mich kam eine Einladung ins Gesundheitsministerium für Ende Oktober. Egal, wie der Austausch verläuft, meine Meinung lasse ich mir nicht verbieten.
Sehen Sie sich als Corona-Rebell?
Pürner: Nein. Ich will fachlich meine Meinung äußern. Ich lasse mich auch nicht instrumentalisieren, von keiner Partei und von keiner Gruppierung.
Das Interview führte Corinna Kattenbeck
*Der Münchner Merkur ist Teil des bundesweiten Ippen-Digital-Redaktionsnetzwerks.