Corona stürzt Studenten in die Krise - Psychologische Beratungsstellen an Bayerns Unis überrannt

Corona bremst das Leben von drei Millionen Studenten in Deutschland aus – mit teils gravierenden Folgen. Eine Selbsthilfegruppe in München versucht, ihnen zu helfen.
München – Montag, 19.30 Uhr: Acht Gesichter ploppen auf Eva Stöttners Bildschirm auf. Die 26-Jährige ist Mentorin für Studentinnen und Studenten, für die die Pandemie mehr als nur herausfordernd ist. Sie fühlen sich Tag für Tag wie in einem Hamsterrad aus Online-Unterricht, Einsamkeit, Selbstzweifeln und Zukunftsängsten. Wie jeden Montag fragt Stöttner in die digitale Runde: „Wie geht’s euch? Was habt ihr erlebt?“. Jeder erzählt, was ihn bedrückt. Das Wörtchen „man“ ist verboten, stattdessen solen Teilnehmer „ich“ sagen.
Corona schlägt Studenten auf die Psyche - Gruppen sollen helfen
„Ich habe jetzt zum ersten Mal eine eigene Gruppe“, erzählt Stöttner, die an der Ludwig-Maximilians-Universität in München* Psychologie im Master studiert. Als Therapie gelten diese all-montäglichen 90 Minuten, die drei Monate lang abgehalten werden, also nicht. „Studenten wollen hier anderen Studenten helfen“, sagt Stöttner. Die Idee entstand im Herbst 2020 zum zweiten Online-Semester in Folge. Über den Verein „Campus for Change“ haben drei Studenten aus der Psychologie und Medizin ehrenamtlich ihre Hilfe angeboten. „Inzwischen sind wir neun Teammitglieder“, sagt Stöttner. „Und die Nachfrage unter den Studierenden steigt.“
Stöttners Gruppenmitglieder wollen anonym bleiben. Zu groß ist die Angst, verspottet zu werden. Immer wieder berichten Studierende, sie fühlten sich von der Politik vergessen. Echte Probleme hätten sie eh nicht – das sei doch die vorherrschende Meinung in der Gesellschaft. Bei Mama und Papa wohnen? Ein Geschenk! Prüfungsängste? Zusammenreißen! Einsam? Dann unternimm was! Angst vor Corona*? Die hat jeder!
München: Selbsthilfe-Gruppe will Studenten mit depressiven Symptomen helfen
Doch so einfach lassen sich die Probleme nach vier Online-Semestern nicht mehr wegschieben. 40 Prozent der Studierenden leiden unter depressiven Symptomen, die Hälfte fürchtet, den Stoff nicht bewältigen zu können. Der Großteil ist stark demotiviert, heißt es in einer Forsa-Umfrage, die im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse im Herbst durchgeführt wurde.
Michael Noghero vom Studentenwerk Augsburg kann das nur bestätigen: „Seit Ende 2021 ist die Nachfrage nach psychologischer Beratung sprunghaft angestiegen. Vor der Pandemie betrug die Wartezeit auf einen Termin etwa vier Wochen – aktuell acht oder länger.“ Corona sei von einem „Hintergrundrauschen“ nun zu einem ganz eigenen Beratungsthema geworden. „Die Studierenden haben depressive Symptome, wie Freudlosigkeit, Konzentrationsprobleme, Sinnlosigkeitsgefühle und psychosomatische Beschwerden.“ Letztere reichen von Schlaflosigkeit bis hin zu Appetitlosigkeit, Schweißausbrüchen, Zitteranfällen und Reizdarm.
2G oder 3G? Präsenz, hybrides Lernen oder Online? Zum vierten Mal standen Studierende Anfang dieses Semesters wieder vor der Frage, wie es weitergeht. „Immer in der Schwebe zu sein, belastet viele“, sagt Stöttner, „weil der Start ins Erwachsenen-Leben so unplanbar ist.“ Das Praktikum, das Auslandssemester, der Master oder der Berufseinstieg – niemand wisse, wann und ob das klappt. Es gibt Studenten, die bisher nur vom Kinderzimmer aus studieren. „Für ein Online-Studium können sie sich nicht leisten, nach München zu ziehen“, so Stöttner. Dieses Nicht-Flüggewerden-Können fühle sich dann wie Scheitern an. Und wer Hunderte Kilometer entfernt wohnt, ist auch emotional weit weg von der Uni. Die Tage haben keine Struktur. Das Hamsterrad dreht sich.
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LMU-WeCare: Münchner Universität baut Beratungsangebot für Studenten aus
Andere wohnen vor Ort. Konnten ohne Veranstaltungen aber keine Kontakte knüpfen – sie quält die Einsamkeit. „Die rasant steigende Nachfrage führen wir auf die Kontaktverbote zurück“, sagt Michael Noghero. „Wir haben es seit zwei Jahren mit Mikrotraumatisierungen zu tun, deren Auswirkungen jetzt erst spürbar werden.“ Hinzukommen Studierende, die ihre Erfahrungen nach einer Corona-Infektion verarbeiten müssen. „Schwer belastet sind die mit Postcovid-Symptomen, aber auch Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen dürfen.“
Psychologische Beratung wird also weiter dringend gebraucht werden. Selbst wenn die Unis (oder einzelne Fachbereiche) im Sommer wieder Präsenzkurse anbieten, wie der frühere Wissenschaftsminister Bernd Sibler (CSU) bereits angekündigt hatte. Die LMU hat ihre Anlaufstellen schon ausgebaut – auf 70 Angebote, darunter „Campus for Chance“. „Viele psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angstzustände entstehen im jungen Erwachsenenalter“, sagt Eva Stöttner. „Man kann aber auch viel abfangen.“ In den nächsten Wochen starten daher zwei neue Selbsthilfegruppen. Eine davon auf Englisch. Mindestens zwei Vorteile hat die Gruppe: Sie ist Mittel gegen Einsamkeit und ein Ort zum Zusammenkommen – und das tut allen gut. (sco)