Der Münchner Kardinal, der bei der Revolution weinte

München – Es war eine wissenschaftliche Sensation, als 2013 bekannt wurde, dass der legendäre Münchner Kardinal Michael von Faulhaber (1869-1952) emsiger Tagebuch-Schreiber war. Die Tagebücher, aufgetaucht im Nachlass eines verstorbenen Pfarrers, umfassen die Jahre 1911 bis 1950 – und sie sind eine schier unerschöpfliche Quelle, zeigen sie doch Faulhaber ganz privat in all seinen Verstrickungen, Irrtümern und Abwägungen.
Nun ziehen Historiker, die die Tagebücher in einem wissenschaftlichen Mammutprojekt seit acht Jahren Seite für Seite, Tag für Tag, online veröffentlichen, Halbzeitbilanz: „Das Bild des Kirchenmannes wird immer differenzierter“, sagt Peer Volkmann, einer der Historiker.
Noch bis Ende 2025 wird es dauern, den kompletten Faulhaber zu edieren. Doch fest steht schon: Der Kardinal war ein im Kaiserreich sozialisierter und fest verwurzelter Kirchenfürst. Die Revolution 1918 verabscheute er – weit mehr als die Nationalsozialisten, bei denen er seit 1933 „eine schier endlose Verhandlungsbereitschaft“ an den Tag legte, wie der Editions-Mitarbeiter Philipp Gahn sagt. Und zwischen all dem finden die Historiker immer wieder interessante Einzeleinsichten – etwa zum Verhältnis Faulhabers zu Frauen.
Vor der Lektüre stand das Erlernen einer Schrift: Die fast 30 000 Tagebuch-Seiten sind in der schwer lesbaren Gabelsberger Stenoschrift verfasst. Anfangs, sagt die Historikerin Franziska Nicolay, eine der Herausgeberinnen, dauerte das Lesen einer Tagebuchseite vier Stunden. Das heißt eigentlich: zwölf Stunden, denn bei dem Projekt gilt das Sechs-Augen-Prinzip. Jede Tagebuchseite wird von drei Personen gelesen, damit letzte Irrtümer bei der Entzifferung beseitigt werden können.
0,4 % der Textstellen sind nicht lesbar
Zunächst dachten die Forscher, sie wären gut, wenn sie vier bis fünf Prozent des Textes nicht lesen könnten. Aber sie sind noch viel besser als gedacht: Nur 0,4 Prozent der Textstellen sind bisher nicht lesbar.
Die Edition des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, des Erzbistums und des Münsteraner Lehrstuhls für Kirchengeschichte startete 2015 mit der Veröffentlichung der Bände zur Revolution 1918, die Faulhaber in München erlebte. „Die schrecklichste Nacht meines Lebens“, notierte er am 7. November 1918 ins Tagebuch, als auf den Münchner Straßen die Revolution ausbrach. Zwei Tage später war er von einem Weinkrampf geschüttelt – an einem Turm der Frauenkirche wehte jetzt die rote Fahne. „Der grundsätzliche Wert, der ihm wichtig ist, ist die Ordnung“, sagt Mitherausgeber Moritz Fischer. Das ist eine der großen Interpretationslinien, die das gesamte Werk durchzieht. Die moderne Massendemokratie setzt Faulhaber mit Chaos gleich.
Das erklärt auch, warum die NS-Machtübernahme 1933 bei Faulhaber weniger emotionale Regungen auslöste als die Revolution 1918: Die Nationalsozialisten putschten sich nicht an die Macht, es gab keine Straßenunruhen – das war Faulhaber offenbar wichtig.
Das bestürzende Ausmaß, in dem sich Faulhaber mit den Nationalsozialisten einließ, ist vielleicht die größte wissenschaftliche Erkenntnis des Projekts. Bis jetzt sind nur die Bände 1933 bis 1939 einsehbar – aber was sich hier offenbart, ist schon erschütternd genug. Faulhaber war ganz offensichtlich dem Hitler-Mythos erlegen. „Mit Hitler kann man reden, das war seine Meinung“, sagt der Historiker Peer Volkmann. „Ich schätze ihn persönlich sehr hoch, als wirklichen Staatsmann, will keine Vernichtung der Kirche“, heißt es im Februar 1937 im Tagebuch. Und das ist nicht die einzige Stelle, an der Faulhaber Hitler huldigte. Zwar ging er, etwa in den Advents- und Silvesterpredigten 1933, zeitweise auf Distanz. Letztendlich aber wollte er auf dem Verhandlungsweg seine Kirche vor Übergriffen schützen – bekanntlich gelang das nur in Details.
Ein Widerstandskämpfer war Faulhaber nicht
Ein Hinschmeißen des Kirchenamts kam für ihn aber auch angesichts der Verstaatlichung von Klöstern oder der Verfolgung katholischer Geistlicher nicht infrage. „Ein Widerständler ist er nicht gewesen, weil es ihm nicht darum ging, das Regime zu stürzen.“ Der Begriff, sagt Forscher Fischer, „wäre bei Faulhaber ganz fehl am Platz“.
Gespannt kann man bei den noch ausstehenden Tagebüchern zur Kriegszeit sein, wie Faulhaber den wachsenden Widerstand gegen Hitler sah, etwa das Attentat vom 20. Juli 1944. Durch den Briefwechsel des Ehepaars Helmuth James und Freya Moltke ist schon bekannt, dass Faulhaber Kontakte zum „Kreisauer Kreis“ pflegte. Aber wie tief das ging, wird wohl erst die Edition erweisen.
Neu veröffentlicht seit vergangener Woche ist der Tagebuch-Band für das Jahr 1949, der in die Nachkriegszeit führt und Zugang zum späten Faulhaber verschafft und nebenbei auch die Notlage im Nachkriegs-Bayern illustriert. Auch eine gewisse Bekanntschaft mit dem Tarnnamen „Malmolitor“ taucht in dem Band auf: Mit der 27 Jahre jüngeren Lehrerin Franziska Bösmiller, die Faulhaber in seinem Tagebuch mit der wörtlichen lateinischer Übersetzung ihres Namens tarnte, pflegte er eine Liebesbeziehung. Die Forscher nehmen ab Ende der 1930er-Jahre „enge intime Kontakte“ an – „das war mehr als nur eine platonische Freundschaft“, meint Franziska Nicolay. Erst ab 1950 kühlte das Verhältnis ab. „Malmolitor“ taucht in den edierten Tagebuchbänden ab 1945 oft auf, über die Liebelei schweigt sich Faulhaber jedoch auch hier aus – Bösmiller war da in ihrem Nachlass offenherziger.
Überhaupt: Faulhaber und die Frauen: Die Besucherschar, die Faulhaber über Jahrzehnte empfing, war „überwiegend weiblich“. Faulhaber war ein Frauenschwarm. Sieh mal einer an.
Die Edition: www.faulhaber-edition.de