Kinder mit Migrationshintergrund haben deutsche Werte auf Stundenplan

Mehr als 660.000 Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund leben in Bayern. Sie zu integrieren ist eine Aufgabe, die die Schulen nicht allein bewältigen können. Deshalb fördert der Freistaat nun ein Pilotprojekt. Kinder sollen die deutschen Werte spielerisch kennenlernen – und sie in ihre Familien tragen.
München – Iessa weiß schon lange, dass in ihm ein Polizist steckt. Wenn er groß ist, will er die Bösen verhaften und die Guten beschützen, sagt er. Er will Verbrecher mit Handschellen abführen. Wie das geht, macht er vor. Er soll hier im Werteraum-Zelt, das kurz vor den Ferien im Innenhof der Münchner Eduard-Spranger-Grundschule aufgebaut ist, einen Polizisten spielen. Worte darf er nicht benutzen. Seine Mitschüler müssen erraten, um welchen Beruf es geht – und die richtigen Kostüme anziehen, wenn sie es herausgefunden haben. Als Iessa die imaginären Handschellen klicken lässt, setzen seine Mitschüler die Polizeimütze auf. Diesmal war es einfach – Iessa hat wohl nicht das erste Mal in seinem Leben einen Polizisten gespielt.
Der Achtjährige hat fast sein ganzes Leben in Deutschland verbracht. Seine Familie ist aus dem Irak geflüchtet, als er ein Jahr alt war. Iessa ist mit Brezn und Fladenbrot aufgewachsen. Mit seinen Freunden spricht er akzentfrei Deutsch. Zu Hause, bei seinen Eltern wird aber vor allem die irakische Kultur gelebt. Heute in dem Workshop dreht sich für ihn und seine Mitschüler alles um deutsche Werte.

Iessa ist eines von 1400 Grundschulkindern in Bayern, die an dem interaktiven Integrationsprogramm „Werteraum“ teilnehmen. Es ist ein Modellprojekt, das vom bayerischen Sozialministerium mit rund 780 000 Euro gefördert wird und aktuell an bis zu zwölf Schulen angeboten wird. In acht Workshops lernen Grundschüler mit Migrationshintergrund aber dauerhafter Bleibeperspektive spielerisch alles über das Zusammenleben in Deutschland. Mal geht es um Umgangsformen, mal um Gleichberechtigung, mal um Feste – heute geht es um Berufe.
An der Eduard-Spranger-Schule im Münchner Norden haben 80 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. „Sehr viele von ihnen sind in Deutschland geboren“, berichtet der Konrektor Oliver Fritsche. „Man kann von Werten nicht oft genug reden“, sagt er. Deshalb hat sich die Schule für das Projekt beworben.
Schirmherren sind neben Sozialministerin Emilia Müller (CSU) die Brochier Stiftung, die Kids for Life Stiftung und die Martin Gruber Stiftung. Letzterer ist an diesem Vormittag bei den Workshops dabei, um sich selbst ein Bild davon zu machen, wie die Kinder spielerisch lernen, dass in Deutschland jeder alles werden kann. „Ich habe selbst eine Schule besucht, an der es viele Kinder mit Migrationshintergrund gab“, erzählt der Schauspieler aus Giesing. „Damals hatten wir die Chance noch nicht, Brücken zwischen den Kulturen zu schlagen.“ Als Schauspieler ist er natürlich hervorragend dafür geeignet, bei den Pantomime-Übungen einzusteigen. Allerdings brauchen die Mädchen und Buben die Hilfe vom Profi meistens gar nicht. Ob Maler, Kfz-Mechaniker oder Elektriker – es gibt keinen Beruf, von dem die Kinder nicht wissen, wie sie ihn darstellen sollen.

Fragen haben sie trotzdem jede Menge. „Wie heißt ein Mann, der Krankenschwester wird?“, will die neunjährige Promedie, die aus dem Kongo stammt, wissen. Könnte für sie eines Tages wichtig werden – schließlich will sie Ärztin werden, um anderen zu helfen. Dass das für eine Frau in Deutschland möglich ist, wird sie ihren Eltern heute Abend vielleicht erzählen. Denn auch darum geht es bei dem Projekt. „Wir wollen über die Kinder auch die Familien erreichen“, sagt Antonia Neulinger, von der Spiel & Sport Team GmbH, die Kooperationspartner bei dem Projekt ist. Die Kinder tragen die Werte zu ihren Eltern und Geschwistern weiter – das ist das Ziel. „Denn ohne gemeinsame Wertebasis kann Integration nicht gelingen“, betont Neulinger.
Iessa wird an diesem Tag zu Hause einiges zu erzählen haben. Er hat zum Beispiel gelernt, dass in fast jedem Beruf Pünktlichkeit sehr wichtig ist. Und dass Polizisten in Deutschland ganz selten schießen. Handschellen brauchen sie trotzdem – aber das wusste er ja schon.