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Peggy und die Suche nach der Wahrheit

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Von: Carina Zimniok

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Peggys Leiche wurde nie gefunden © dpa

Hof - Vor 13 Jahren verschwand Peggy, ihre Leiche fand man nie. Als ihr Mörder wurde der geistig Behinderte Ulvi K. verurteilt. Jetzt steht er wieder vor Gericht - weil es Zweifel gibt. Und weil Journalisten nicht lockerließen.

In den Nächten schreckt Ina Jung, 55, immer wieder hoch: „Was mach‘ ich da eigentlich?“, schießt es ihr dann durch den Kopf. Ihr wird heiß, ihr Herz schlägt schneller. Jung ist Journalistin aus München, und seit acht Jahren führt sie einen Kampf, der an ihr zehrt. Sie sucht die Wahrheit. Sie will herausbekommen, wie die kleine Peggy Knobloch 2001 aus Lichtenberg verschwunden ist. Spurlos. Weder fand man eine Leiche, noch Tatspuren.

Bei ihren Recherchen stieß Ina Jung auf ein Gewirr aus Irrtümern und Lügen. In den Nächten zweifelt sie an ihrer Arbeit. „Kann das alles stimmen?“ Am Morgen setzt sie sich an den Schreibtisch, liest Gutachten, Ermittlungsakten. Dann weiß sie: Sie ist auf der richtigen Fährte. Der Fall Peggy, da gibt es für sie keinen Zweifel, ist ein Justizskandal.

Gemeinsam mit dem Journalisten Christoph Lemmer aus Bad Aibling hat Ina Jung ein Buch über den Fall Peggy geschrieben. Es erschien vor einem Jahr – und brachte den Rechtsstaat in Erklärungsnot. Auf 327 Seiten dokumentiert es Justizfehler, dazu mögliche Spuren zu Peggy und ihrem Schicksal. Sie führen in die Türkei, nach Tschechien, zu einem pädophilen Freund der Familie Knobloch aus Sachsen-Anhalt. Am Ende könnte eine die richtige sein. Aber welche? Da sind sich nicht einmal die Autoren einig. In etwas anderem schon: dass die Wahrheit nicht so einfach ist, wie die Ermittler dachten. Oder behaupteten.

Im Oktober 2002 präsentiert die Polizei einen Mörder: den geistig behinderten Ulvi K. (Chronologie rechts). Heute zweifelt allerdings auch die Staatsanwaltschaft, dass der nun 36 Jahre alte Mann der Täter ist. Jetzt wird der Prozess gegen Ulvi K. neu aufgerollt – auch dank Jung und Lemmer. Am Donnerstag startet das Wiederaufnahmeverfahren am Landgericht Bayreuth.

Eine Woche vor Prozessbeginn steht Ina Jung, blonde Haare, hellgrüne Lederjacke, im Keller des Justizpalastes, im Gemeinschaftszimmer. Für den Prozess des Jahres haben sie es umgebaut zum Medienzentrum. 50 Journalisten mit Kameras, Blöcken und Mikrofonen drängen sich bei einem Pressetermin. Ein Gerichtssprecher erklärt, wie das Verfahren ablaufen wird. Ina Jung hört zu, verschränkt die Arme und flüstert: „Ich wäre am liebsten gar nicht hier.“ Gerade wird ihr wieder bewusst, was ihre Recherchen ausgelöst haben. Und was passiert ist seit einem zufälligen Gespräch, das für Ina Jung alles veränderte.

Als Peggy, das blonde Mädchen mit den blauen Augen, am 7. Mai 2001 verschwindet, arbeitet Ina Jung als freie Autorin für den Bayerischen Rundfunk, dreht Dokus über Straßenkinder in Berlin oder Vergewaltigungsopfer in Zagreb. Die mysteriöse Geschichte aus Lichtenberg im Kreis Hof bekommt sie am Rande mit: In den Nachrichten kommen Bilder aus dem Ort mit den bunten Häuschen, sie zeigen die verzweifelte Mutter, schockierte Nachbarn, Spurensicherer und Bundeswehr-Tornados, die den Frankenwald überfliegen auf der Suche nach Peggy. Die Polizei setzt auf bildgewaltige Szenen, um die Menschen zu beruhigen. Denn sie tappt im Dunkeln, obwohl 75 Polizisten rund um die Uhr am Fall arbeiten. Ermittler und Politik geraten unter Druck, der damalige Innenminister Günther Beckstein (CSU) tauscht die Sonderkommission aus. Er will Erfolge sehen. Ein Mädchen, das am helllichten Tag wie vom Erdboden verschluckt wird – das darf es in Bayern nicht geben.

Dann endlich ein Erfolg: Die Polizei nimmt Ulvi K. fest, den Gastwirtsohn, der auf dem geistigen Stand eines Grundschülers ist. Er ist damals in der Psychiatrie untergebracht, weil er Doktorspiele mit Buben gemacht hat. Und am 3. Mai 2001 soll er auch Peggy missbraucht haben. Wenig später, am 7. Mai, habe er sie auf ihrem Heimweg von der Schule abgepasst, um sich zu entschuldigen. Als Peggy davongelaufen ist, habe er sie verfolgt, eingeholt und schließlich erstickt – aus Angst, das Mädchen würde vom Missbrauch erzählen.

Ich war’s, sagt Ulvi K., doch noch vor dem Urteil zieht er sein Geständnis zurück. „Ich bin kein Mörder“, sagt er immer wieder. Die Richter verurteilen ihn 2004 trotzdem zu lebenslanger Haft. Wegen Mordes. Seither sitzt er in der Psychiatrie. Viele zweifeln schon damals. Ein geistig Behinderter soll ein perfektes Verbrechen begangen haben? Ohne, dass eine Leiche gefunden wird? Ohne Spuren zu hinterlassen? Trotz aller Zweifel: Der Fall gilt als abgeschlossen. Ein Fehler, wie man heute weiß.

Das ahnt Ina Jung erstmals 2008. Sie trifft privat einen Polizisten aus der ersten Ermittlergruppe. Der erzählt ihr, wie sehr er noch immer leidet unter dem Fall. Dass er nachts Musik hört, um schlafen zu können. Und dass es ihn wundert, wie die neue Sonderkommission Ulvi K. als Mörder festnehmen konnte – dafür hätten ihm und seinen Kollegen die Beweise gefehlt. Ina Jung wird hellhörig.

Sie fährt nach Lichtenberg. Peggys Mutter ist längst ausgezogen aus dem blassblauen Haus am Marktplatz. Doch die Menschen im Ort haben die Geschichte noch nicht verwunden und schon gar nicht vergessen. Ina Jung klingelt bei den Nachbarn. Manche wollen erst nicht mit ihr reden, doch sie gewinnt ihr Vertrauen.

Jung lernt auch die Frau kennen, die von Anfang an gegen eine Verurteilung von Ulvi K. gekämpft hat: Gudrun Rödel. Ulvis Eltern haben sie zur gesetzlichen Betreuerin ihres Sohnes erklärt, die ehemalige Rechtsanwaltsgehilfin gründet eine Bürgerinitiative und beauftragt einen Juristen mit einer Verfassungsklage. Aus der wird nichts, doch Rödel kommt an die Akten heran. Und gibt sie an Ina Jung weiter.

Die rekonstruiert den Tag, an dem Peggy verschwand. Und stellt fest, dass Ulvi K. nicht der Mörder sein kann. Und dass die Polizei das gewusst haben muss. Jung spricht mit Zeugen, die beobachteten, wie das Mädchen nach der Schule in ein Auto stieg. Und Zeugen, die Peggy noch abends im Ort sahen, als sie nach der offziellen Theorie schon hätte tot sein sollen. Die Details fügen sich zu einem riesigen Puzzle. Darin sind viele Tatabläufe möglich – und mehrere Täter.

Ina Jung hört immer wieder: „Die spinnt doch.“ Für viele ist Ulvi K. der einzig denkbare Mörder. Dann, im September 2010, dreht sich die Stimmung. Ein wichtiger Zeuge, der mit Ulvi K. in der Psychiatrie war und behauptet hatte, der mutmaßliche Mörder habe ihm das Verbrechen gestanden, zieht seine Aussage zurück. Jetzt deutet sich an: Die Polizisten haben Ulvi K. das Geständnis womöglich in den Mund gelegt. Doch noch immer bleibt die Akte geschlossen – erst zwei Jahre später kündigt die Staatsanwaltschaft eigene Ermittlungen an.

Ina Jung arbeitet da bereits mit einem anderen Journalisten zusammen: Christoph Lemmer, ein drahtiger, sachlicher Mann. Er ist beim Sender „Antenne Bayern“, interessiert sich für komplizierte Fälle. Die beiden finden heraus, dass die Kripo Ulvi mit zweifelhaften Verhör-Techniken befragte, nach dem Reid-Verfahren, das auf Täuschungen und Drohungen setzt. Dass dem Gutachter, der Ulvi untersuchte, wichtige Informationen vorenthalten wurden. Man hielt Ulvi ein konkretes Tatszenario vor. Plapperte er das einfach nach? Und ausgerechnet in dem Moment, als Ulvi gestand, war sein Anwalt nicht dabei? Und das Tonband defekt? Denn Aufzeichnungen gibt es keine.

2007 gerät der vorbestrafte Sexualstraftäter Holger E. ins Visier der Ermittler, auch seine Familie besuchen Jung und Lemmer. E. ist ein Bekannter von Peggys Mutter, kannte die Tochter, hatte einen Schrein mit Peggy-Devotionalien im Zimmer, gab ein falsches Alibi an – und sitzt seit kurzem in Halle im Gefängnis. Weil er seine kleine Tochter sexuell missbraucht hat. Hat er auch Peggy auf dem Gewissen? Nun wird gegen ihn ermittelt, für Lemmer die heißeste Spur.

Falsch ist auf jeden Fall der Tathergang, von dem die Polizei ausging, da sind sich Jung und Lemmer einig. Ein Indiz: Ulvi K. soll Peggy aus dem Ortskern bis zur Burg nachgelaufen sein (siehe Karte). „Ulvi K. kann gar nicht rennen“, sagt Lemmer.

Am Nachmittag nach dem Pressetermin in Bayreuth stehen er und Jung hinter dem Haus in Lichtenberg, in dem Peggy lebte. Es ist verwahrlost, am Fenster im ersten Stock verblassen Kinder-Aufkleber. Zwischen dem Grundstück und dem Friedhof verläuft der bucklige, schmale Weg, den die Ermittler für Peggys Fluchtweg hielten. „Hätten die Polizisten Ulvi nur ein einziges Mal die Strecke rennen lassen“, sagt Ina Jung, „dann hätten sie gemerkt, dass es so nicht gewesen sein kann.“

Gleich der erste Prozesstag könnte für die Polizei brisant werden. Zwei junge Männer werden aussagen – sie sahen ihre Schulkameradin Peggy am 7. Mai 2001 in einen roten Mercedes mit tschechischem Kennzeichen einsteigen. Sie machten detaillierte Aussagen, wussten sogar noch, dass sie an dem Tag Würstel zu Mittag gegessen hatten. Doch ihre Aussage spielte im ersten Prozess keine Rolle.

Jung und Lemmer machten die beiden ausfindig. Sie erzählten ihnen, dass die Ermittler sie kurz nach ihrer ersten Aussage unter Druck gesetzt hatten: Die Polizisten besuchten die Buben getrennt voneinander, ohne Eltern, erzählten ihnen, der jeweils andere habe seine Angaben zurückgenommen. Die Kinder bekamen Angst, zogen ihre Aussagen zurück. Jetzt bekommen sie eine zweite Chance. Und vielleicht auch Ulvi K.

Von Carina Lechner

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