Das Publikum? Nein, es ist keine Frauenveranstaltung in der Big Box! Und wenn auch der (leicht) überwiegende Teil der Zuschauer schätzungsweise jenseits Mitte 40 liegen dürfte, haben sich zahlreiche ersichtliche Fans der jüngeren Generation darunter gemischt.
Keinerlei Ermüdungserscheinungen, „Gianna“ beherrscht das Geschäft nach wie vor perfekt. Sie beginnt frei von divenhaften Allüren pünktlich, spielt und kokettiert mit dem Publikum, zeigt keine stimmliche Schwäche und bringt es am Ende der insgesamt gut 100 Minuten (ohne Pause!) sicher auf einige Kilometer zu Fuß.
Dass „Sie“ der Star des Abends ist, wird spätestens bei der Vorstellung, der absolut als Top zu bezeichnenden Band klar. Klar werden alle aufgerufenen Mitglieder bejubelt. Siegessicher stellt sie sich zum Schluss das Ergebnis auskostend selbst vor: „Voce: Gianna Nannini.“ Sollte sie mehr gesagt haben, ging die Botschaft im tosenden Saal unter.
Aber vor allem ging es ja ums Singen. Und da konnte die italienische Rock-Ikone aus einem prallen Hit-Repertoire aus ca. vier Jahrzehnten schöpfen. „America“, eine Ode an die Selbstbefriedigung aus dem Jahr 1979, das einst „nicht nur als sexuelle Anspielung gedacht“ gewesen sei, wie sie in einem Spiegel-Interview von Alex Gernandt am 27.3.2017 wissen ließ. „Das Cover war auch ein Statement für die Leute, die alles aus Amerika automatisch cooler fanden“, sagt sie weiter über die auf dem Album „California“ abgebildete Freiheitsstatue, die statt der Fackel einen Dildo in der Hand hält. Laszive Gesten zum Song lässt „Gianna“ auch in Kempten nicht außen vor. „Bello e impossibile“, „I maschi“, „Scandalo“ wecken im Publikum hörbar so manche (nicht nur) Urlaubserinnerung.
Ihrer Anti-Weiblichkeits-Rolle ist Nannini offenbar auch bis heute treu geblieben. Davon zeugt nicht nur der Schriftzug auf ihrem T-Shirt „femininity the trap – Simone de Beauvoir“, was man mit „Die Weiblichkeitsfalle“ übersetzen kann. Sichtbar ist auch ein Statement aus oben genanntem Interview zum Thema Altern im Show-Biz und Schönheit-OPs: „Den Scheiß mach ich nicht mit. Diesem oberflächlichen Jugendwahn möchte ich mich nicht unterwerfen.“
Vielmehr fühle sie sich heute „wie eine alte Stradivari-Geige – in Würde gealtert und dabei sogar noch wertvoller geworden“. Dieser Feststellung hätte an diesem Abend wohl kaum jemand widersprechen wollen, so wie die Zuhörerinnen und Zuhörer gleichermaßen „ihre“ Königin des Abends selbst nach vier Zugaben, darunter eine Gianna Nannini typische Version des Hits „Volare“ von Domenico Modugno, nur sehr zögerlich entließen.