Von Odessa geflüchtet: Ukrainerin musste ihren Mann zurücklassen – „Schwerste Entscheidung unseres Lebens“

Oksana Diduk flüchtete mit ihrem Sohn aus Odessa nach Bayern. Ihr Mann darf nicht ausreisen. Ob sie ihn wiedersehen wird, weiß die 39-Jährige nicht.
München – Oksana Diduk ist gerade auf dem Heimweg vom Supermarkt, als sie plötzlich das Zischen einer Rakete am Himmel hört. Sie donnert über ihr hinweg. Dann hört sie den lauten Knall und sieht Rauch aufsteigen – ungefähr dort, wo das Haus steht, in dem sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebt. Oksana rennt so schnell sie kann. Sie weiß, dass ihr 15-jähriger Sohn Arsenii gerade zu Hause ist.
Ihr Herz klopft wild, als sie endlich ihr Zuhause sehen kann. Das Gebäude ist nicht getroffen. Doch das Geschoss ist ins Nachbarhaus eingeschlagen. Dort, wo sich auch das Fitnessstudio befindet, in dem Oksana als Trainerin arbeitet. Dieses Mal ist es gut gegangen für sie und ihre Familie. Und trotzdem weiß sie in diesem Moment: „Ich halte den Krieg nicht länger aus.“
Ukrainerin flüchtet mit ihrem Sohn vor dem Krieg nach Bayern – ihr Mann darf nicht mit
Oksana Diduk wollte nicht flüchten. Sie liebt ihre Heimat Odessa – sie liebt ihr Leben dort. Als Russland die Ukraine vor einem Jahr angriff, versuchte sie, ruhig zu bleiben. Sie hoffte, Odessa würde von den Raketenangriffen verschont bleiben. Schon bald war von ihrem normalen Leben nicht mehr viel übrig. „Es gab Tage, an denen wir um 3 Uhr nachmittags gefrühstückt haben, weil es vorher keinen Strom gab oder so oft Fliegeralarm“, erzählt sie.
Jede Nacht wird sie von den Sirenen geweckt. Manchmal schlafen sie, ihr Mann und ihr Sohn im Flur – weit entfernt von den Außenwänden. Und immer mit Schuhen, damit sie schnell aus dem Haus rennen können, sollte es von einer Rakete getroffen werden. Arsenii kann nicht mehr in die Schule gehen oder sich mit seinen Freunden treffen, vieles wird immer gefährlicher. An dem Tag, als die Rakete das Nachbarhaus zerstört, weiß Oksana, dass sie es nicht schafft, den Krieg auszusitzen. Sie will mit ihrem Sohn flüchten. Ihr Mann darf die Ukraine nicht verlassen – wie alle Männer, die jünger als 60 Jahre sind.
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Wegen Ukraine-Krieg: Oksana verlässt Heimat mit ihrem Sohn – „Schwierigste Entscheidung meines Lebens“
Ihre Flucht bedeutet für Oksana auch einen Abschied, ohne zu wissen, ob und wann es ein Wiedersehen geben wird. Ohne zu wissen, wann sie ihre Heimat wiedersehen kann – und was dann von ihr übrig geblieben sein wird. Heute sagt sie: „Es war die schwierigste Entscheidung meines Lebens.“
Es ist Anfang Juli, als sie einen Koffer und eine Sporttasche packt. Nur das Nötigste können Arsenii und sie mitnehmen. Auf Instagram hat Oksana von Freiwilligen gelesen, die für Ukrainer die Flucht nach Deutschland organisieren. Sie weiß nicht, wo in Deutschland sie landen wird. Sie spricht kein Wort Deutsch, kaum Englisch. „Das war alles viel zu viel für mich“, erzählt sie.
Nach Ankunft am Münchner Hauptbahnhof völlig erschöpft – für Weiterfahrt fehlt die Kraft
Es dauert fast zwei Tage, bis Arsenii und sie in München angekommen sind. Die meiste Strecke haben sie in Bussen zurückgelegt. Als sie am Münchner Hauptbahnhof ankommen, sind sie völlig übermüdet und erschöpft. Und sie wissen nicht, wie es für sie weitergeht. Die Helfer drücken ihnen ein neues Zugticket nach Frankfurt in die Hand, wohin sie am nächsten Tag weiterfahren sollen. Doch so weit kommt es nicht. Arsenii ist am nächsten Morgen ganz gelb im Gesicht. Er hat seit längerer Zeit Probleme mit der Leber, die Flucht hat ihn viel Kraft gekostet.
Für Oksana Diduk fühlt es sich an, als würde das Gewicht der ganzen Welt auf ihren Schultern lasten. Ihr Mann ist so weit weg. Sie ist mit allen Problemen ganz allein. In einem Land, in dem sie die Sprache nicht versteht – und ohne zu wissen, wie es für sie und ihren Sohn weitergehen wird.

Seit diesem Morgen sind acht Monate vergangen. Ein Ende des Ukraine-Krieges ist nicht in Sicht. Oksana und Arsenii sind innerhalb Bayerns dreimal umgezogen. Von München nach Baldham, von dort nach Sielenbach, jetzt leben sie in Aichach in einem Wohnheim mit vielen anderen Geflüchteten. „Bei jedem neuen Umzug denke ich, meine Kraft reicht nicht mehr“, sagt Oksana. Jedes Mal wird Arsenii wieder aus der Schule herausgerissen. In Aichach hat er Freunde gefunden, er spielt Badminton im Verein. Oksana macht einen Deutschkurs. Und sie hofft, dass sie endlich wieder etwas wie einen Alltag finden und sie dieses Mal länger in der Unterkunft bleiben dürfen.
Nach Ukraine-Flucht: Mutter und Sohn haben Bayern lieben gelernt – trotz einiger Probleme
Beide haben angefangen, Bayern lieben zu lernen. Vieles, was sich anfangs fremd anfühlte, haben sie liebgewonnen. Blaukraut. Spätzle. Weißwürste. Und vor allem die Berge. Neulich wollten sie sie aus der Nähe sehen und mit der Herzogstandbahn auf den Gipfel fahren. Doch auf dem Weg nach Kochel landeten sie im falschen Bus. „Wir waren über fünf Stunden unterwegs und als wir angekommen sind, war es so neblig, dass man kaum etwas gesehen hat“, erzählt die 39-Jährige. Dann sagt sie: „Trotzdem war es ein wunderschöner Tag.“
Es hat sich etwas verändert in den vergangenen Wochen. Es ist eine so kleine Veränderung, dass Oksana sie fast nicht bemerkt hätte. Sie denkt nicht mehr darüber nach, ob sie jemals nach Odessa zurückkehren wird. Weil es jetzt keinen Sinn macht. Niemand weiß, wie es in ihrer Heimat weitergehen wird. Mit ihrem Mann telefoniert sie täglich, er harrt in ihrem Haus in Odessa aus. Immer noch fällt es ihr schwer, alles allein meistern zu müssen. „Wir sind noch nicht zu hundert Prozent hier angekommen“, sagt Oksana.
Oksana floh aus der Ukraine: Dankbar für Hilfe, aber ständige Sorge um Ehemann, Vater und Großmutter
Manchmal wacht sie auf und weiß nicht, wo sie gerade ist. Aber sie ist froh, dass ihr Sohn wieder zur Schule gehen und Sport machen kann. Und sie ist dankbar für die Hilfe und das Verständnis, das sie hier von Menschen bekommen hat, die sie kaum kannte. „Ich wünsche mir, dass es einfacher wird“, sagt sie. Und natürlich hofft sie darauf, dass sie ihren Mann bald wieder an ihrer Seite hat. Dass wieder jemand da ist, auf den sie sich verlassen kann.
Ihr Vater und ihre Großmutter leben noch in ihrer Geburtsstadt Dnipro. Auch um sie macht sie sich Sorgen. Erst neulich hat sie sich wieder erinnert, dass ihre 89-jährige Großmutter immer denselben Wunsch aussprach, wenn sie an Silvester oder zu einem Geburtstag angestoßen hatten: „Alles Gute und kein Krieg.“ Diese Worte haben sich für Oksana immer so unpassend angefühlt, so aus der Zeit gefallen. Erst jetzt versteht sie. Dieser Wunsch gehört in jede Zeit.
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