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Mehr Tests, mehr Infizierte? – Experte für Medizinstatistik erklärt die steigenden Corona-Zahlen

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Von: Andrea Eppner

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„Corona ist wieder voll da.“ So verkündete es Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am Dienstag in einer Videobotschaft. Tatsächlich steigen die Fallzahlen seit ein paar Wochen wieder. Doch was bedeutet das? Wichtige Fakten und Hintergründe.

München - 347 positive Coronatests wurden am Mittwoch (26. August) aus Bayern gemeldet, zehn mehr als am Vortag (Quelle: LGL Bayern). In ganz Deutschland stieg die Zahl laut Robert-Koch-Institut (RKI) von 1278 am Dienstag auf 1576. Ein leichter Anstieg, wie so oft in den vergangenen Tagen.

Coronavirus in Deutschland: Was sagen die täglichen Meldezahlen tatsächlich aus?

Hier fängt das Problem schon an. „Wir sehen nicht die Anzahl der tatsächlichen Neuinfektionen, sondern die Anzahl der positiven Tests“, erklärt Professor Gerd Antes, Medizinstatistiker und ehemaliger Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums in Freiburg. „Daneben steht die unbekannte Dunkelziffer der nicht getesteten Infizierten.“

Experte für Medizinstatistik
 Prof. Gerd Antes
Experte für Medizinstatistik Prof. Gerd Antes. © privat

Daran konnten auch Antikörper-Studien bislang wenig ändern: In Hotspots durchgeführt, sind die Daten nicht auf ganz Deutschland übertragbar. Zudem sind Antikörper bei manchen Erkrankten nach einigen Monaten nicht mehr nachweisbar. Trotz Infektion und Antikörpertest tauchen sie also nicht als Genesene in diesen Studien auf.

Coronavirus: Wie viele Tests werden derzeit durchgeführt?

Laut RKI wurden bislang 11,2 Millionen Menschen getestet. Für diese Woche steht eine Kapazität von gut 1,4 Millionen Tests bereit. Vergangene Woche wurden 987.423 Tests gemacht. Auf dem Höhepunkt der Pandemie in der ersten Aprilwoche gab es 408.348 Tests – 36.885 mit positivem Ergebnis. Damit lag die „Positivenrate“, der Anteil der positiven Ergebnisse an allen Tests, bei rund neun Prozent. Diese sank dann und erreichte in der Woche ab 6. Juli mit 0,59 Prozent ihren Tiefstand. Von 510.103 Tests waren da nur noch 2990 positiv. Danach stieg die Positivenrate und sank zuletzt wieder.

Coronavirus: Zweite Welle in Deutschland? Was sagt die Positivenrate zur aktuellen Lage aus?

Die Werte von Anfang April sind mit den aktuellen nicht direkt vergleichbar. So wurden die Tests immer stärker ausgeweitet, zuletzt auch auf symptomfreie Menschen, die anfangs nicht getestet wurden. Es spricht daher einiges dafür, dass im April die Dunkelziffer der Infizierten höher war als heute. Allerdings ist die Rate auch in den vergangenen Wochen etwas gestiegen. Das deutet darauf hin, dass die Tendenz aktuell wieder etwas nach oben geht. Auffällig ist, dass die Zahl der Positivtests in den vergangenen Wochen stark gestiegen ist, die Positivenrate aber maximal bei 1,0 lag und zuletzt sogar auf 0,88 gesunken ist.

Was ist mit dem „R-Wert“, der anfangs so wichtig schien?

Die Reproduktionszahl „R“ gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Gut ist ein „R-Wert“ unter eins, denn dann steckt man statistisch gesehen weniger als einen Menschen an. Die Folge: Die Pandemie ebbt langsam ab. Der R-Wert beruht aber auf einer statistischen „Schätzung“. Die zugrunde liegenden Daten sind störanfällig, etwa durch verzögerte Meldedaten. Daher sollte man den R-Wert nur als groben Gradmesser sehen. „In diesem Rahmen sind die derzeitigen Änderungen des R-Werts nicht markant“, sagt Antes. So meldete das RKI am Mittwoch einen R-Wert von 0,85. Der stabilere 7-Tages-R-Wert lag bei 0,93. Die zwei Nachkommastellen, die das RKI irgendwann einführte, findet Antes überflüssig. Sie seien „eher eine Irreführung der Öffentlichkeit denn eine präzise Information.“ So sei eine Änderung von 1,1 auf 1,2 „völlig irrelevant“, anders als eine von zwei oder drei.

Coronavirus: Mehr Tests, mehr Infizierte – steigen deshalb die Fallzahlen?

Eine Ausweitung der Tests kann laut RKI zu einem Anstieg der Fallzahlen führen, da mehr Infizierte erfasst werden, auch solche ohne oder mit milden Symptomen. Das heiße aber nicht, dass die steigenden Zahlen „nur mit dem vermehrten Testaufkommen zu erklären wären“. Das sieht auch Antes so: Die Zunahme sei zwar „untrennbar mit der Anzahl der durchgeführten Tests verbunden“. Diese allein darauf zurückzuführen, „sei aber sicherlich nicht möglich“.

Zweite Welle in Deutschland? Welche Rolle spielen Testfehler?

Kein diagnostischer Test ist perfekt. „Fehlerraten müssen bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden“, erklärt Antes. PCR-Tests gelten laut RKI generell als recht zuverlässig, auch im Alltagseinsatz, wie sogenannte Ringversuche ergeben hätten – eine Art Stichprobe aus einigen Labors. „Falsch-positive Befunde bei der Sars-CoV-2-PCR-Testung kommen nach derzeitigen Erkenntnissen nur selten vor“, heißt es beim RKI. Gemeint ist ein positives Testergebnis bei einem Nicht-Infizierten.

Sind falschpositive Tests ein Grund für die steigenden Fallzahlen?

Allein mit „einem vermeintlich hohen Anteil an falsch-positiven Ergebnissen der PCR-Testung“ ließen sich die steigenden Fallzahlen nicht erklären, heißt es beim Robert-Koch-Institut. Allerdings könnte hier auch ein statistisches Phänomen zumindest eine Rolle spielen.

So werde die Testsituation durch die sehr geringe Infektionsrate bei uns derzeit „besonders erschwert“, erklärt Antes: Je weniger Infizierte es gibt, desto mehr fallen falsche Tests statistisch ins Gewicht. Erklären lässt sich das am besten mit einem Extrembeispiel und einem Test mit einer Genauigkeit und Treffsicherheit (Sensitivität und Spezifität) von jeweils 99 Prozent: Testet man 100 Gesunde, würde man ein falschpositives Ergebnis bekommen. Das gilt auch, wenn man eine Gruppe testet, in der alle 100 Personen krank sind. Der Test würde dann 99 Infizierte anzeigen. Da fiele der eine falsche Test kaum ins Gewicht.

Coronavirus: Sind mehr Tests doch keine gute Idee?

Professor Gerd Antes kritisiert, dass nach wie vor ein tragfähiges Testkonzept fehle: „Bildlich gesprochen beobachten wir ein völlig unkoordiniertes Fischen nach Infizierten, um damit Infektionsketten zu unterbrechen.“ Die Folge sei ein Durcheinander und „eine für das Infektionsgeschehen der Population extrem schädliche Verschwendung von Ressourcen.“

Völlig unkoordiniertes Fischen nach Infizierten

Professor Gerd Antes

Die Testanforderungen würden in vielen Laboren bereits die rationierten Liefermengen an Reagenz- und Verbrauchsmaterialien übersteigen, warnt auch Professor Jan Kramer, Vorstand der „Akkreditierten Labore in der Medizin“ (ALM). „Sollten jetzt noch weitere regionale Ausbrüche hinzukommen, wird uns das in die Knie zwingen.“

Zumal weltweit mehr getestet wird. Prof. Christian Drosten, Virologe der Berliner Charité, schlug daher kürzlich vor, bei steigenden Fallzahlen im Herbst öfter auf eine verkürzte Quarantäne zu setzen als auf mehr Tests.

Während die Fallzahlen steigen, bleibt die Zahl der Todesfälle recht stabil. Woran liegt das?

Der Anteil der Verstorbenen an den positiv Getesteten lag in Kalenderwoche 16 bei sieben Prozent und ist seither stetig gesunken – zuletzt auf 0,1 Prozent in Woche 34 , was einem Toten pro 1000 Positivtests entspricht (die Dunkelziffer ist nicht berücksichtigt). Das kann viele Gründe haben. Einer davon: „Die Verschiebung des Alters bei der Infektion hin zu Jüngeren“, sagt Antes. Laut RKI habe insbesondere der Anteil der 10- bis 30-Jährigen zugenommen – womöglich durch Freizeitaktivitäten, Reisen und Beruf. Jüngere haben aber im Schnitt ein geringeres Sterberisiko, schon weil viele weniger Vorerkrankungen haben.

Corona-Krise: Wie ist die Lage in den Kliniken?

Laut IntensivRegister der Intensivmediziner-Vereinigung DIVI ist die Lage derzeit entspannt: Bis Mittwoch wurden noch 228 Menschen auf Intensivstationen behandelt. Mehr als 8932 Intensivbetten waren frei. Das kann sich aber schnell ändern, sollten im Herbst die Fallzahlen stark steigen. Virologe Streeck rät daher, neue Maßnahmen weniger von den Infektionszahlen, die aktuell nicht sehr aussagekräftig seien, abhängig zu machen als vielmehr von der Lage in den Kliniken.

Coronavirus-Krise: Vieles wird vermischt in Debatten - ein Münchner Forscher über Begriffe und Fakten, die für langfristige Strategien wichtig sind.

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