Addio, Assoluta: Zum Tod von Jahrhundertsopranistin Edita Gruberova

Es ist ein Fanal, mit dem keiner gerechnet hat: Die Opernwelt hat mit Edita Gruberova die letzte Assoluta verloren. Ein Nachruf.
Jeder hatte seinen Gruberova-Moment. Das konnte eine Rolle, ein Abend, eine Begegnung, manchmal nur ein Ton sein, wofür man der gebürtigen Slowakin verfallen war. Das Lachen ihrer Zerbinetta in Strauss’ „Ariadne“, das auf unnachahmliche Weise mit den hanebüchenen Koloraturen verschmolz. Der vokale Drahtseilakt in der großen Szene von Donizettis „Lucia di Lammermoor“, wo Wahnsinn, Verzweiflung und der Schrei nach Liebe auf bestürzende Weise eins wurden. Oder das Finale in Donizettis „Roberto Devereux“, in dem Englands Königin Abschied von Amt und Leben nahm, sich ein letztes Mal, unter vollem Bewusstsein des Verzichts, gegen das Schicksal aufbäumte.
Letztere Partie wurde ihre Abschiedsrolle von der Opernbühne, im März 2019. Vielleicht war das sogar die beste Rolle von Edita Gruberova, hier, im Münchner Nationaltheater, wo sie in der Inszenierung von Christof Loy so ergreifend wahrhaftig war, weil sie neben der bestechenden Stimmkunst viel von sich preisgab. Eine alternde Königin, die vergeblich um einen jungen Liebhaber buhlt und ihre Macht verliert: Noch heute stockt jedem der Atem, der diese Szenen erleben durfte. Dass die Gruberova am Montag in ihrer Wahlheimat Zürich von der Lebensbühne abgetreten ist, mit 74 Jahren, hat nicht nur keiner erwartet, es ist auch ein Fanal: Die Opernwelt hat ihre letzte Diva, die Assoluta unserer Zeit, verloren.
Eine Diva war Edita Gruberova eigentlich nicht
Wobei Diva? Genau das war die Gruberova eigentlich nicht. Weil sie sich nicht verbrannte, nicht mit Macken, Schrullen oder Allüren auffiel. Von Regisseuren wollte sie gefordert sein, ebenso von den Partnern, von oft begriffsstutzigen Tenören, die sie auch mal zum szenischen Nachhilfeunterricht in die Garderobe holte. Vor allem zwei Sachen verbat sie sich: Treppen und zu starke Bühnenschrägen. Schließlich, so pflegte sie in ihrem slawischen Singsang zu lamentieren, verstehe kaum einer dieser Regisseure und Bühnenbildner, was Singen für ein Kraftakt sei.
Edita Gruberova war nicht nur eine Jahrhundertsängerin, die das Fach des Koloratursoprans neu definierte, sondern zudem entwaffnend bis erschöpfend professionell. Denn auch das ist ein Gruberova-Moment: Wenn sie für ein Gespräch, das man gern mit ihr geführt hätte, ihr vollgekritzeltes Terminbuch hervorkramte, um nach einer freien Stelle zu fahnden – und man konnte sicher sein: Vier Monate später, um 15 Uhr, würde sie im Café erscheinen, keine Minute zu spät.
Es gab eine Künstlerin jenseits der Jubel-Tsunamis
Für eine glamouröse Diva fehlte der Gruberova vieles. Nach den Vorstellungen liebte sie ein Glas Bier, keinen Schampus. Sie konnte urkomisch sein, wenn sie sich über Kolleginnen oder Kollegen ausließ, selbstverständlich nur bei ausgeschalteten Aufnahmegerät. Und ihr meckerndes Lachen war dann oft genauso imponierend wie ihre vokalen Gipfelstürme.
Vielleicht war sie so normal und geerdet, weil sie viele Rückschläge verkraften musste. Der alkoholkranke und schlimme Vater. Die Flucht aus ihrem Heimatland nach Wien, wo sie an der dortigen Staatsoper zunächst mit Mini-Partien abgespeist wurde. Der Freitod ihres Mannes. Die Kinder, die sie während der Streifzüge durch die internationalen Operntempel alleinlassen musste und die damit verbundenen Schuldgefühle. Natürlich, so sagte sie in den Momenten, in denen sie tief blicken ließ, sei da dieser Hang zur „slawischen Depression“. Es gab also, was viele nur ahnten, eine andere Gruberova jenseits der Jubel-Tsunamis nach den Lucias, Anna Bolenas oder Konstanzen.
Was die Karriere betrifft, war die Wartezeit an der Wiener Staatsoper letztlich ihr Glück – obwohl sie zuvor im Februar 1968 für ihr Bühnendebüt in Bratislava, als Rosina im „Barbier von Sevilla“, gewaltige Aufmerksamkeit erregt hatte. Nur so konnte die Gruberova reifen von den Mozart-Partien etwa einer Königin der Nacht, die sie unzählige Male gesungen hat, bis zu den tragischen Heldinnen eines Donizetti und Bellini.
Die Gruberova erfand den Belcanto neu
Mit diesen Interpretationen erfand die Gruberova den Belcanto neu. Weil sie begriff und vorführte, dass all der Zierrat nicht nur Selbstzweck und Ausstellungsstück eitler Sängerinnen ist, sondern dramatisch motiviert. Eine vokale Grammatik also, die jedes Wort, jeden Ton hinterfragte und vom Zerrissensein dieser Tragödinnen kündete, etwas, das die Gruberova vielleicht selbst am besten begreifen konnte. Mag sein also, dass Belcanto-Diven wie die Gruberova so gut sind, weil das Erfühlen der Partie genauso wichtig war wie die technische Bewältigung: Ein Berührungspunkt, womöglich der einzige, mit der sonst so anders gepolten Callas.
Das Aufhören fiel Edita Gruberova schwer, auch wenn sie sich das nicht ganz eingestand. Sie brauchte das Publikum, so wie auch wir sie brauchten. Mit manchen Partien wie Bellinis Norma ging sie an Grenzen. Und manchmal schien es, als ob sie nur von einem Ziel beseelt war: ein halbes Jahrhundert auf der Bühne. Es wurden schließlich 51 unvergleichliche, unwiederholbare, gloriose Jahre.
Dass die Gruberova am Ende immer noch besser war, als die meisten Kolleginnen in diesem Fach, war ihr ganz persönlicher Triumph. Und dass sie 2019 zum Opernabschied die Königin aus „Roberto Devereux“ wählte, verrät viel von ihrem Selbstverständnis. Es war eine Art unausgesprochene Reflexion. „Non regno, non vivo“ stößt Elisabeth I. im Finale hervor, „ich herrsche nicht, ich lebe nicht“. Als ob es nur ums Diesseits geht: In der Opernwelt wird Edita Gruberova ewig weiterherrschen.