Alexander Kluge wird 90: Ein Artist im Welt-Zirkus

Alexander Kluge, der große Denker, Autor und Filmemacher, feiert am 14. Februar 2022 seinen 90 Geburtstag. Die Münchner Kammerspiele feiern das an zwei Abenden. Ein Gespräch mit Alexander Kluge über den Zirkus des Lebens.
Als man ihn in seiner Schwabinger Wohnung trifft, sitzt Alexander Kluge am Schreibtisch. „Arbeiten Sie noch immer jeden Tag?“, fragt man ihn, der am 14. Februar 2022 unglaubliche 90 Jahre alt wird. Und er antwortet lächelnd: „Was soll ich denn sonst tun?“ Beobachten und Aufschreiben ist sein Leben. Am 12. und 13. Februar 2022 feiern die Münchner Kammerspiele den großen Filmemacher und Autor. Gerade ist von Kluge das Buch „Zirkus/Kommentare“ bei Suhrkamp erschienen (176 Seiten, 30 Euro). Ein Gespräch über den Zirkus des Lebens.
Was sind Sie: der Clown, der Dompteur, der Zauberer, das Publikum? Wo ist Ihr Platz in der Manege?
Alexander Kluge: Ich bin der Autor. Und ich war einmal ein kleines Kind, das sich für Zirkus entzückte. Für die Lichter, den Geruch. Dass man die Tiere zu etwas bringt, was sie von sich aus nie täten. Also etwa der Elefant, von der Gravitation immer zum Erdmittelpunkt gezogen, soll auf einem Fuß stehen – was nicht seine Gewohnheit ist. Das kann der Mensch bewirken, und darauf ist er stolz. Es geht eigentlich um das Allmachtsgefühl, diese eigenartige Artistik in der Zirkuskuppel.
Darüber haben Sie vor Jahren einen Film gedreht. Ist es das, was Sie fasziniert: das Nach-den-Sternen-Greifen der Artisten?
Alexander Kluge: Dies und dem entgegengesetzt die Bodenhaftung, das ist mein Thema. Der Mensch ist sachlich – und er ist empathisch, hat Fantasie. Das sind zwei Beißwerkzeuge, die entgegengesetzt sind.
Denn man muss die Bodenhaftung verlieren, um fantasieren zu können.
Alexander Kluge: Sicher, sicher. Um abheben zu können.
Haben wir das in den vergangenen zwei Jahren verloren, dieses Fantasieren, weil gerade ja nichts mehr planbar ist? Sind wir zu vernünftig geworden?
Alexander Kluge: Das würde ich nicht sagen. Gucken Sie: Da kommt ein Außerirdischer, der hat sich zu uns verirrt. Entweder aus einem Labor oder aus dem Inneren von Fledermäusen, wo er schon fünf Millionen Jahre saß. Und der hält uns den Spiegel vor. Wie ein Eulenspiegel zeigt er uns unsere Schwächen. Wir können uns nur mühsam umstellen, mutieren sehr langsam – und das Virus extrem schnell. Die Schwäche vom Virus ist, dass es aus Schusseligkeit sein Erbgut nicht exakt weitergibt. Dadurch ändert es sich so fix. Ein Schauspieler der Evolution. Wie Hase und Igel: Wir jagen hinterher und das Virus sagt: „Ich bin schon da!“

Das ist gemein.
Alexander Kluge: Das ist gemein, und das ist auch nicht lustig. Ich habe durchaus Angst, ich möchte das nicht in mir haben. Gleichzeitig aber habe ich auch Respekt davor, dass es etwas gibt, was nicht unsere Allmacht ist. Der Anti-Zirkus.
Sie leben 90 Jahre auf dieser Erde. Haben Sie eine vergleichbare Situation schon mal erlebt?
Alexander Kluge: Nehmen Sie den Krieg und die Bombenangriffe 1944/45: Das war schlimmer. Um Corona zu entgehen, müssen wir ja eigentlich nur vorsichtig sein, Abstand halten. Halten Sie mal Abstand von einem Fluggeschwader, das auf die Stadt anfliegt!
Sind Sie deswegen verärgert über Menschen, die sagen: „Ich halte mich nicht an die Regeln“?
Alexander Kluge: Meine Aufgabe ist nicht, Vorhaltungen zu machen. Ich würde allerdings diese Haltung unter die Lupe nehmen. Jeder Irrtum hat einen guten Grund. Wenn Sie alle Irrtümer auf ihren Grund abklopften, hätten Sie mehr Erfahrungsmasse, als wenn Sie nur alle richtigen Ansichten zusammenstellen. Ich bin nicht der Meinung, dass die Literatur der Vormund der Menschen ist. In jedem Menschen steckt eine Beobachtungsgabe. Davon ist der Autor der Chronist. So machen wir etwas, was jeder Mensch mehr tun müsste: beobachten, aufschreiben, sich merken und gelegentlich vergessen.
Was sollte man vergessen?
Alexander Kluge: Ich habe eine Geschichte geschrieben, die ist etwa eine halbe Seite lang: 1945, als 13-Jähriger, gehe ich in eine Wurstfabrik, wohin das Stadttheater Halberstadt evakuiert ist. Dort wird Goethes „Iphigenie auf Tauris“ geboten. Ich sitze gedemütigt da, weil ich nicht so ein guter Mensch bin. Iphigenie stammt aus einer Generationenfolge von Verbrechern. Und jetzt hört diese Verbrecherkette auf. Weil da eine junge Frau ist, die nicht auf der Höhe des Bösen ist. Sie ist zu schusselig dafür. Aus Schwäche vergisst sie das Böse. Das befriedigt mich. Wenn wir die Vorstellung vergessen, dass wir die Mächtigen sind, kann es uns gelingen, gutartig zu sein.
Also nicht nur durch Schusseligkeit, sondern durch Erkenntnis?
Alexander Kluge: Na ja, durch Erkenntnis – und Vergessen. Informieren ist ganz wichtig, das ist die Seite der Sachlichkeit. Erzählen aber ist noch etwas anderes: Es ist erfahrungsgesättigt, mehr als 40 000 Jahre erzählen Menschen schon. Es ist von der Emotion geleitet.
Deshalb merkt man sich Geschichten besser, wenn man sie erzählt bekommt?
Alexander Kluge: So ist es. Und man muss sie als Erzähler mehrmals durcheinanderwirbeln. Man muss es sachlich sagen, man muss es mit Einfühlung sagen. Und einmal mit Musik. Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man singen, heißt es bei Mozart. Ich finde es schade, dass ich noch nie eine „Tagesschau“ gesehen habe, in der der Sprecher ergriffen war und plötzlich anfing zu singen. So wie die Sänger in der Antike sangen, die von Troja berichtet haben.
Das wär’s, wenn Susanne Daubner anfinge zu singen.
Alexander Kluge: Oder Olaf Scholz. Dabei könnten es die Kinderstimmen in uns eigentlich noch.
Es würde auch etwas zum Schwingen bringen bei dem, der zuhört.
Alexander Kluge: Richtig. Die Seele badet in Musik. Der Immanuel Kant hat etwas ganz Wunderbares gesagt in dem gefürchteten Schematismus-Kapitel der „Kritik der reinen Vernunft“. Nämlich, dass es zwei Stämme der Erkenntnis gibt: der eine ist die Sinnlichkeit, die Anschauung, und der andere ist der Begriff, also das, was der Verstand tut. Die beiden können eigentlich nicht miteinander.
Warum nicht?
Alexander Kluge: Weil sie einander nicht verstehen. Das Auge fängt nicht an, nach Sinn zu fahnden, sondern nur danach, was es interessiert. Das ist ein Lustsucher. Und das Ohr ist ein genialer Unterscheider, ist für das Gleichgewichtsgefühl genauso zuständig wie für Musik und die Zwischentöne im Reden. Das heißt, wir haben eine Menge Organe, aber die sind alle nicht aufs Ganze gerichtet.
Ein Zirkus.
Alexander Kluge: Das, was im Kopf eines Menschen, im Körper und zwischen Menschen geschieht, ist großer Zirkus. Aber dann kommt die Poetik und verbindet. Das ist die Fantasie. Sie ist der Tanzschritt des Geistes, der Begriff und Anschauung verbindet.
Dazu braucht es auch Wissen. Kommt uns Wissen abhanden, weil wir alles ständig googeln können?
Alexander Kluge: Gar nicht, denn wir gewinnen dazu.
Aber wir merken es uns nicht mehr.
Alexander Kluge: Warum muss man sich denn alles merken, wenn man es nicht braucht? Wissensgut, sogenannten Bildungsmüll mit sich herumzutragen, ist ja eigentlich nicht notwendig.
Sagen Sie als jemand, der so viel davon mit sich herumträgt!
Alexander Kluge: Nein, nein. Mein Wissen kommt von der Emotion. Und an der Emotion hängen die Erfahrungen. Es kommt nicht von mir allein. Wissen ist nicht der Kernpunkt – Unterscheidungsvermögen, das ist wichtig.

Und das Erzählen. Neulich saß ich im Restaurant neben einer Familie, alle vier Kinder schauten auf ein eigenes iPad. Verlieren wir die Lust am Gespräch?
Alexander Kluge: Nein. Mir ist es auch seltsam, wenn ich Kinder dasitzen sehe, und jedes guckt in ein anderes Gerät. Aber da reden sie ja eigentlich auch. Das Internet ist ein einziges großes Reden. Die Digitalität ist so etwas wie die Industrialisierung des Bewusstseins. Ich würde mich da nicht an eine Klagemauer stellen. Sondern beobachten: Wenn etwas passiert, wird erzählt – und nicht aufs Handy geguckt.
Und wieder gemeinsam Gedanken-Zirkus gespielt?
Alexander Kluge: Ja, gemeinsames gedankliches Abschweifen ist wie Schwimmen. Wir waren mal Seetiere, und daher haben wir zweierlei: das Schwitzen und das Weinen. Und das Weinen tröstet seltsamerweise. Das ist das Lamento in der Oper: dass man offen traurig sein kann. Dass Gilda stirbt im „Rigoletto“, der Vater bucklig und verlassen ist. Das sind Dinge, die kommen im Alltag nicht immerzu vor, bewegen uns aber innerlich.
Über Ihre eigenen Bücher haben Sie einmal gesagt, dass Sie sie schreiben und es Sie danach nicht mehr so sehr interessiert, was daraus wird. Stimmt das?
Alexander Kluge: Das war eine Übertreibung. (Lächelt und deutet liebevoll auf seine Bücher.) Sie sind schon wie Kinder, man mag sie gerne. Aber: Sie gehören mir nicht. Sie sind entlassen, den anderen Büchern zugesellt und ihnen anvertraut. Das ist etwas, was mich anrührt: Dass seit mehr als 2000 Jahren in Büchern Erfahrungen festgehalten werden und man als Autor mit all diesen Autoren verwandt ist. Dann bin ich traurig, wenn die Bibliothek in Alexandria verbrennt.
... und Sie machen einen Film daraus.
Alexander Kluge: Genau, damit man ein Lamento hat darüber. Worüber man weinen kann, darüber kann man anschließend neu anfangen.
Wird man gelassener, je älter man ist?
Alexander Kluge: Nach meiner Beobachtung nicht. Es ist eine Frage der Persönlichkeit. Meine Mutter war zum Beispiel schneller aufgeregt und mein Vater ruhig. Das guckt man sich ab.
Nach wem kommen Sie in dieser Hinsicht?
Alexander Kluge: Was Ruhe betrifft, würde mein Vater mein Vorbild sein – und tatsächlich bin ich wie meine Mutter. (Lacht.) Zwei Pferde sind vor meine Seele gespannt. Ein schwarzes und ein weißes.
Und nun werden Sie 90 Jahre alt, am Valentinstag! Ein Mann der Liebe.
Alexander Kluge: Das ist ein bisschen übertrieben. Aber immerhin: fünf Tage nach Gerhard Richter, das ist mein Brüderchen.
Am Samstag, 12. Februar 2022, gibt es ab 18 Uhr in den Münchner Kammerspielen den musikalischen Abend „Es gibt kein richtiges Leben im falschen Hasen“ mit Lilith Stangenberg, Überraschungsgästen und Alexander Kluge. Am Sonntag, 13. Februar, 11 Uhr, wird Hannelore Hoger aus Alexander Kluges „Das Buch der Kommentare“ vorlesen. Dazu gibt es Musik und Filme. Karten und weitere Infos finden Sie hier