„Angel‘s Bone“ und „Das Tagebuch der Anne Frank“ am Theater Augsburg: Die Höllen auf Erden

Die trauen sich was am Staatstheater Augsburg. An zwei Tagen hintereinander bringt das Haus „Das Tagebuch der Anne Frank“ und „Angel‘s Bone“ heraus. Zwei Opern der Hoffnungslosigkeit - und ein doppelter Premieren-Coup.
Zwischen Pool und Terrasse könnte der Einschlag passiert sein. Eine harte Landung, schließlich sind Girl Angel und Boy Angel auf der Flucht vor dem Paradies – oder wurden sie verstoßen? Jedenfalls erwartet sie schon auf der Erdoberfläche, bei Mrs. und Mr. X.E., die Hölle. Und wer nun eine hübsche Religionssatire im Geiste von „Leben des Brian“ erwartet, sieht sich bereits nach wenigen der 80 pausenlosen Minuten einem Klang-Overkill ausgesetzt. Ein Test fürs Trommelfell und den Martini-Park, Ausweichspielstätte des Augsburger Staatstheaters, der eine solche Premiere wohl noch nicht erlebt hat.
„Angel’s Bone“, die 2016 in New York uraufgeführte und mit dem Pulitzer-Preis prämierte Oper von Du Yun, erzählt eine schauerliche Geschichte. Von einem gefallenen Engelspaar, das in die Hände eines Erdenpaars mit Beziehungsproblemen fällt. Keine Verehrung folgt, sondern Ausbeutung. Die Flügel werden brutal amputiert. Man brüstet sich in neu erlebter Gemeinsamkeit mit dem Himmelsfund, zwingt die Engel zur käuflichen Liebe. Am Ende trägt Mrs. X.E. ein von Boy Angel zwangsgezeugtes Kind unterm Herzen und fühlt sich in ihrem (auch vokalen) Wahnwitz als reinkarnierte Maria.
Schwarze Parabel auf Menschenhandel und Bigotterie
Was Komponistin Du Yun, geboren in Shanghai und nach New York ausgewandert, mit Textdichter Royce Vavrek hier schuf, ist eine nur vordergründig reale Handlung. Es ist vielmehr eine schwarze Parabel auf Menschenhandel und Prostitution, Kindesmissbrauch und Bigotterie. Dazu gibt es einen anarchischen Stilmix zwischen verschmutzter Gregorianik, hartem Rock, frei flottierenden Musikgesten und Musical. Bedrohung steht neben spröder Poesie. Schräge Satire und rohe Aggression schreien aus der Partitur. Manchmal verdichtet sich alles zu gesprochenen oder gesungenen Soli bis zum stampfenden Ostinato-Song, einmal dreht die Oboe durch in den Virtuosen-Irrwitz.
Regisseurin Antje Schupp und Christoph Rufer (Bühne) erfinden für die europäische Erstaufführung eine drehbare Szenerie. Mal ist das Flügel(!)-Altar mit Prachtmalerei, mal Küche, mal Bad, wo das Engelspaar in der Wanne gehalten wird. Schupp beantwortet die Fliehkräfte der Musik mit einer auf mehreren Schichten arbeitenden, präzise geformten Regie. Dirigent Ivan Demidov vollbringt das Wunder, alles inklusive Augsburger Philharmonikern zusammenzuhalten. Und was Luise von Garnier (Mrs. X.E.), Wiard Witholt (Mr. X.E.), Alma Naidu (Girl Angel) und Claudio Zazzaro (Boy Angel) bis zur Selbstaufopferung singen und spielen, verdient eine tiefe Verneigung.
Verstörend gut sind diese 80 Minuten. Wer angesichts der krassen Klang- und Regie-Sprache in Abwehrhaltung geht, muss einsehen: Alles andere als diese schonungslose Ästhetik würde Inhalt und Thema verharmlosen. Das Staatstheater Augsburg traut sich da was. Und dies gleich mit zwei Premieren an einem Wochenende. Tags zuvor nämlich kam auf der kleineren Brecht-Bühne „Das Tagebuch der Anne Frank“ heraus. Dass die 1972 uraufgeführte „Mono-Oper“ von Grigori Frid im ehemaligen Augsburger Gaswerk spielt, lässt einen allerdings nicht nur einmal schlucken.

Die Inszenierung von Nora Bussenius geht damit offensiv um. „Willkommen im Gaswerk, im Museum der letzten Dinge“, spricht es vor Beginn aus den Lautsprechern. Ohnehin ist Frids Sechzigminüter weniger realistische Nachzeichnung, eher Reflexion. Über die Person Anne Frank, über die braune Zeit, über das, was die Geschehnisse in der Amsterdamer Prinsengraacht 263 für uns bedeuten. Die 21 kurzen Episoden sind Schlaglichter, weniger lineare Handlung. Frid gießt das in fassbare, rhythmisch profilierte Strukturen und in eine durchaus kantable Musik. Eine Art freie Melodik, die sich an der Spätexpression eines Alban Berg orientiert. Dazwischen mischt sich (Anne Frank schrieb schließlich nicht nur Dunkles auf) Skurriles, Burleskes. Frid glaubt noch an die Singstimme, an ihren Primat. Sopranistin Olena Sloia nutzt das für ein großartiges, fast pausenloses Solo. Eine eindrückliche Umkreisung des Charakters von Anne Frank, die ohne falsche Identifikation oder Sentimentalität auskommt.
Eine Aufführung der kleinen Zeichen mit großer Wirkung
Überhaupt ist dies eine Aufführung der kleinen Zeichen mit großer Wirkung. In einer Vitrine beginnt Anne ihren Monolog. Auf der Bühne liegt noch ein Fahrrad, ein rätselhafter Glaskasten mit Eisbär hängt von der Decke, auch kopfüber eine weiße Frauenpuppe. Aus einem kleinen Schutthaufen fischt Anne Fotos, auch ein – vielleicht Anspielung auf den Jugendroman Judith Kerrs – rosa Kaninchen. Dirigentin Anna Malek und Mitglieder der Augsburger Philharmoniker bewegen sich wie selbstverständlich durch die feinen Verästelungen dieser Partitur. Nach Ende des Stücks gibt ein aus dem Off verlesener „Abspann“ Auskunft über das Schicksal der Franks. Dazu verlässt jeweils ein Orchestermitglied die Bühne – historische und musikalische Familie werden in bestürzenden Minuten eins. Ein doppelter Opern-Coup, das ist das Ergebnis dieses Augsburger Wochenendes mit seinen hoffnungslosen Geschichten. Und die Erkenntnis, man denke nur an „Angel’s Bone“: Wahrscheinlich hätte es zwei Jahrtausende nach seiner Geburt sogar der Messias schwer.