Markus Hinterhäuser über die Salzburger Corona-Festspiele: „Ein Signal an Europa“

Nun ist es tatsächlich geschafft: Salzburger Festspiele in Corona-Zeiten sind möglich. Ein Bilanz-Gespräch mit Markus Hinterhäuser.
Salzburg - Langsam weicht auch beim Intendanten die Anspannung. Vor allem, wenn das Aufzeichnungsgerät ausgeschaltet ist. Die Salzburger Festspiele, die am Sonntagabend zu Ende gingen, haben es tatsächlich geschafft: 110 Termine, maximal 1000 Zuhörer im Saal – und das mitten in der Pandemie. Die gesamte Kulturwelt beobachtete das Experiment, um nun eigene, hoffentlich positive Schlüsse zu ziehen. Eine Begegnung mit Markus Hinterhäuser auf einer Terrasse über der Altstadt – bei Schnürlregen, man wärmt sich an Tee und Espresso.
Fühlen Sie sich missverstanden in der Wahrnehmung der Festspiele? Weil es gar nicht so sehr um die Kunst geht, sondern um die Tatsache, dass überhaupt etwas stattfindet?
Hinterhäuser: Ich habe noch nie einen Salzburger Sommer erlebt, in dem es so um die Kunst ging wie in diesem. Wir hatten ein Publikum, das sich unglaublich hingegeben hat und mit einer enormen Zuneigung allem folgte, was möglich gemacht wurde. Es war eine Mischung aus Freude und Dankbarkeit darüber, dass man wieder zusammenkommen kann. Gerade Letzteres ist doch ein kostbarer Vorgang: Man verabredet sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit für die Kunst. Das alles hat Leidenschaft und Solidarität erzeugt, beides habe ich ganz stark gespürt.
Auch das Risiko?
Hinterhäuser: Risikolos war es nicht, das gebe ich zu. Aber, und da möchte ich uns jetzt gar nicht auf die Schulter klopfen: Es war außerordentlich wichtig, diesen Versuch zu unternehmen. Nicht nur, um 100 Jahre Salzburger Festspiele zu feiern, sondern auch als Signal an die europäische Kultur und Politik: Es kann etwas möglich sein! Wir durchleben zurzeit etwas, das in dieser Drastik noch nie da war. Alles, was mit Bildung, mit Kultur zu tun hat, mit der „Erziehung des Herzens“, wie es Flaubert formulierte, wird nicht nur infrage gestellt, sondern sogar verunmöglicht. Man kann in Restaurants gehen, man kann reisen, man kann ins Büro zum Arbeiten – aber Bildungsstätten und Kultureinrichtungen sind geschlossen. Das ist gefährlich. Uns droht gerade, Entscheidendes verloren zu gehen.
Könnte das gerade nicht auch ein Überwinterungszustand sein, nach dem sich 2021 oder 2022 alles wieder einstellt wie vorher?
Hinterhäuser: Das wird schon in die Richtung gehen, zumal es in absehbarer Zeit Medikamente und einen Impfstoff geben dürfte. Die Konsequenzen der vergangenen Monate sind trotzdem nicht absehbar. Damit meine ich die psychologischen, aber auch die enormen finanziellen. Es wird zurzeit vergleichslos viel Geld investiert in die Bewältigung der Pandemie. Das muss irgendwann wieder hereinkommen – über Steuern und über Kürzungen. Letztere werden ganz sicher nicht vor der Kultur haltmachen. Die Gefahr ist, dass man sich irgendwann die Augen reibt und sagt: „War da eigentlich was? Wir leben doch ganz gut ohne Oper, Konzerte und Schauspiel.“ Und ich rede jetzt nicht über die Salzburger Festspiele, sondern über eine flächendeckende, fantastische Kulturversorgung. Die kleinen Theater, das ist jetzt keine Koketterie, sind mindestens so wichtig wie Salzburg. Dieser Konsens, der für die Verfasstheit einer Gesellschaft unverzichtbar ist, kann verloren gehen.
Ist jetzt Ihre Planung für die nächsten Festspiel-Durchgänge Makulatur
? Weil Sie noch kurzfristiger, noch flexibler reagieren müssen?
Hinterhäuser: Ich weiß es nicht – auch weil ich in keine Glaskugel sehen kann. Ich weiß nicht, ob wir 2021 ein volles Programm mit voller Sitzplatz-Belegung durchführen können. Im Dezember wollen wir unsere Pläne bekannt geben. Wir hätten heuer im Normalfall 240.000 Karten angeboten. Bis zum Lockdown hatten wir weit über 180.000 abgesetzt, letztlich konnten nur 80.000 verkauft werden. Wir sind allerdings vollkommen abhängig von diesem Verkauf. Wir werden nicht einmal zu einem Viertel subventioniert.
Stehen Sie noch einmal ein solches Jahr durch?
Hinterhäuser: So wie jetzt und ohne zusätzliche Hilfe: nein. Aber wir sind uns dieser Lage bewusst gewesen und nicht blind in eine Situation hineingeraten. Wir standen unter weltweiter Beobachtung. Und wir wissen doch: Wir werden mit diesem Virus weiter leben müssen. Wir können nicht alles zusperren. Gern können wir über Kunst und Ästhetik reden, alles schön. Aber man muss auch wissen, dass es sich hier um Arbeitsplätze handelt. Um rund 240 von Schreinern über Reinigungs- und Garderobenpersonal bis zum Stahlbau und den Platzanweisern. Und diese Situation gibt es in jeder Kulturinstitution. Abertausende von Arbeitsplätzen! Wenn eine Drogeriemarkt-Kette Pleite macht, ist das die Schlagzeile. Im Kulturbereich dagegen...
Hat die Kulturszene den Fehler gemacht, dass sie mit Kreativität und Konzepten die Politik zu spät unter Druck gesetzt hat?
Hinterhäuser: Ich kenne die Situation in Deutschland, mir fehlt allerdings der finale Einblick. Ich kann nur über Österreich sprechen. Wir hatten uns in Salzburg einen Zeitplan gegeben, wann wir welche Entscheidung treffen. Ob Absage wie im Falle der Pfingstfestspiele oder Durchführung wie im Falle des Sommerprogramms. Ab Mitte Mai beruhigten sich die Infektionszahlen, es gab Lockerungen bei Supermärkten und in vielen weiteren Branchen. Da entstand ein großer Druck von Seiten der Kulturschaffenden, die sagten: „Wenn die dürfen, dann wir auch.“ Also entwickelte die Politik den Stufenplan mit steigenden Publikumszahlen. Im Übrigen haben wir für unser Hygienekonzept über 400.000 Euro ausgegeben.
Also haben Sie gerade das richtige Fenster erwischt? Wären jetzt noch Festspiele möglich?
Hinterhäuser: Wir haben wohl tatsächlich den richtigen Moment erwischt. Würden die Festspiele, ganz hypothetisch, ab Oktober oder November stattfinden, würde es wahrscheinlich deutlich schwieriger.
Konkret zu einer der beiden Opernproduktionen: Mozarts „Così fan tutte“ war ein überwältigender Erfolg. Eine Aufführung, die in kürzester Zeit und in einer visuellen Reduktion realisiert wurde, wobei Letzteres sogar ihre Stärke war. Nimmt man aus der Corona-Phase mit, dass es für Opernproduktionen gar keinen so großen Aufwand, so viel Ornament braucht?
Hinterhäuser: Man darf hier nicht den Fehler eines systematischen Rückschlusses machen. Die Sache ist viel komplexer. Diese „Così“ war tatsächlich ein sehr spontanes Projekt, das im Gespräch zwischen Regisseur Christof Loy und mir entstanden ist. Das einzige Geschenk, das uns Corona machte, war, dass diese wunderbaren Künstler alle zur Verfügung standen. Erstmals musste ich nicht nur dem „Così“-Team sagen: „Es tut mir wirklich leid, wir können keine Premierenfeier machen – aber es gibt eine zur Dernière.“ Christof Loy hat darauf die denkbar schönste Antwort gefunden: „Markus, mach' dir keine Sorgen – die größte Feier ist die, dass wir hier sein können.“
Salzburg ohne Après-Kunst, ein völlig neues Erlebnis.
Hinterhäuser: So ist es. Wir haben auf enorm viel verzichtet. Es gab diesen Sommer überhaupt kein Bling-Bling. Eine im schönsten Sinne ernsthafte Geschichte. Alle haben mitgemacht, und das Publikum hat immer selbstverständlicher die Schutzmaßnahmen erfüllt. Alles wurde verinnerlicht. Es ist ja nicht überfordernd, eine Maske aufzusetzen oder auf ein Glas Champagner zu verzichten in einer Pause, die gar nicht stattfindet.
Hätten Sie sich mehr Nachfrage gewünscht? Es waren nicht alle Aufführungen ausverkauft.
Hinterhäuser: Wir haben 180.000 Tickets erst einmal rückabgewickelt. Ein Wahnsinnsvorgang, eine logistische Meisterleistung, die unser Kartenbüro gestemmt hat. Insofern gab es gar keine übergroßen Erwartungen. Wir sind außerordentlich gut verkauft gewesen. Normalerweise haben wir Publikum aus über 80 Ländern. Aus zwei Drittel dieser Nationen war eine Anreise gar nicht möglich. Dazu kam eine psychologische Schwelle, und es existiert eine sogenannte Risikogruppe, die eine Reise hierher nicht unternehmen wollte. Im Laufe der Festspiele hat der Verkauf merklich angezogen, weil die Scheu geringer wurde. Ich bin vollkommen glücklich mit dem Ergebnis.
Vor den Festspielen haben Sie immer vom „dünnen Eis“ gesprochen, auf dem Sie sich bewegen. Wurden Sie im Laufe der vier Wochen innerlich ruhiger?
Vor den Festspielen haben Sie immer vom „dünnen Eis“ gesprochen, auf dem Sie sich bewegen. Wurden Sie im Laufe der vier Wochen innerlich ruhiger?
Hinterhäuser: Nochmals: Wir sind ein großes Risiko eingegangen. Die Überzeugung, dass wir die Festspiele in dieser Form durchführen können, war immer da. Es ist aber verständlich, dass man die eine oder andere Gemütsschwankung hat. Natürlich habe ich irgendwann die Tage gezählt.
Fühlen Sie sich jetzt als Klassenprimus, weil Sie der Kulturwelt gezeigt haben, dass es funktioniert?
Hinterhäuser: Nein, so etwas war ich nie und will es nie sein. Es gibt keine Gefühle von Triumph. Unsere Entscheidung war sehr durchdacht und von einem sehr klugen Pragmatismus getragen. Ich glaube, dass wir in einer gewissen Weise glücklich sein können.
Aus dem Bayerischen Kabinett hieß es mit kaum verhohlener Kritik vor Beginn der Festspiele: Na, die Salzburger sind ganz schön sportlich...
Hinterhäuser: …aber der Bayerische Innenminister kam zur „Così“. Und was heißt überhaupt sportlich? Am Wolfgangsee gab es einen Corona-Cluster, okay. Aber wenn am Chiemsee Ähnliches passiert – muss ich dann die Münchner Oper zusperren? Das alles ist doch viel zu schematisch gedacht. Gerade in den vergangenen Wochen haben die Behörden gelernt, dass man viel regionaler mit dem Infektionsgeschehen umgehen muss. Man muss auch in der Pandemie die Fähigkeit entwickeln, intelligenter und differenzierter vorzugehen. Ein bisschen sportlicher würde ich die Bayern schon auch gern haben – nicht nur in der Champions League.
Das Gespräch führte Markus Thiel.
Die Stippvisite von Tesla-Boss Elon Musk beim Impfstoff-Hersteller Curevac hat wilde Übernahme-Spekulationen ausgelöst. Curevac-Haupteigentümer Dietmar Hopp macht dazu eine klare Ansage.*- *Merkur.de ist Teil des Ippen-Digital-Redaktionsnetzwerks.