Eine indische Seifenoper

München - Tom Kühnel und Jürgen Kuttner inszenierten fürs Residenztheater Carl Sternheims „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“.
Müssen sie am Münchner Residenztheater jetzt schon auf offener Bühne Reklame machen? Nein, der Riesenvorhang, der in schickem Schwarzweiß für „Rex“-Uhren wirbt, ist natürlich Teil dieser Aufführung, zu der er das Hintergrundbild abgibt. Denn so ein sündteures Statussymbol am Handgelenk könnte sich Theobald Maske niemals leisten. Schließlich ist er kein Slumdog-Millionär. Aber immerhin nennt der kleine Staatsdiener ein Mofa sein Eigen, mit dem er über die Bühne knattert. Außerdem hat er ein Hüttchen mit Bambus-Veranda und Wellblech-Bedachung. Drinnen, in dessen malerisch miefiger Wohnküche samt Vogelkäfig und Star-Postern, waltet die wunderschöne, aber nicht ganz so züchtige Hausfrau im bunten Sari (herrlich: Hanna Scheibe als lüsternes Hascherl).
Passend zu diesem indischen Ambiente, dröhnt Bollywood-Schnulzen-Musik aus den Lautsprechern, flitzen Fahrrad-Rikschas herum, und die Damen verrenken die Arme im Tempel-Tanz.
Die Besetzung
Regie: Tom Kühnel und Jürgen Kuttner. Bühne und Video: Jo Schramm. Kostüme: Ulrike Gutbrod. Darsteller: Oliver Nägele (Theobald Maske), Hanna Scheibe (Luise Maske, seine Frau; Gräfin Sofie von Beeskow), Johannes Zirner (Christian Maske, sein Sohn), Katharina Pichler (Gertrud Deuter, Nachbarin; Sibyl Hull, ehemalige Geliebte von Christian), Franz Pätzold (Frank Scarron, Mieter; Wilhelm Krey, Sekretär), Jens Atzorn (Benjamin Mandelstam, Mieter; Philipp Ernst, Sohn von Christian Maske), Jürgen Kuttner (Der Fremde; Der Diener; Hartwig Prinz Oels), Gerhard Peilstein (Graf Aloysius Palen; Graf Otto von Beeskow), Friederike Ott (Marianne Palen, Tochter des Grafen Palen; Ottilie, Tochter Christian Maskes).
Der ganze Ethno-Nippes, den Tom Kühnel und Jürgen Kuttner da auffahren, hat natürlich Methode: Dass das Regie-Duo Carl Sternheims Dramenzyklus „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ (1909–1914) auf indische Seifenoper frisiert, also in ein Schwellenland verlagert, wirkt konsequent und stimmig. Denn eben dort spielen sich heute die gleichen Aufsteiger-Geschichten ab wie einst im deutschen Kaiserreich der Gründerzeit. Und man braucht nicht zu viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die vergleichbaren ökonomischen Verhältnisse dort im Prinzip den gleichen Menschentypus hervorbringen, den Sternheim in seinen Dramen als wilhelminischen Spießer karikiert: Den kriecherisch-listigen Untertanen mit seiner verlogenen Doppelmoral, der nicht umsonst den sprechenden Namen Maske trägt. Der großartige Oliver Nägele stellt diesen inzwischen globalisierten Konformisten nicht als wohlfeilen Klischee-Unsympathen dar. Er zeigt ihn vielmehr als deformiertes Produkt der Entfremdung, lässt im Egoismus einen Funken verschütteter Menschlichkeit durchschimmern und macht klar, dass auch dieser Fiesling selbst ein Opfer totaler Anpassungszwänge ist.
Das gelungene „Outsourcing“ des Spießertums nach Indien bleibt allerdings die einzige zündende Regie-Idee des fast vierstündigen Abends. Und so läuft unter der exotischen Kostümierung eine ganz konventionelle Boulevard-Satire ab, die an Biederkeit Herrn Maske nicht nachsteht. Das Ergebnis ist eine unterhaltsame, oft witzige, aber harmlose Aufführung.
Dabei wäre das zentrale Thema des Zyklus nach wie vor brennend aktuell: Die Entlarvung einer Gesellschaft, in der hinter der Fassade der Wohlanständigkeit jeder mit Lug und Trug rücksichtslos seinen eigenen Vorteil sucht. Nach der Pause versandet die Maske-Show leider vollends in fadem Leerlauf und penetrantem Chargieren. Da sieht man dann die steinreichen „dekadenten“ Nachkommen, wie sie in einem Zen-Garten meditieren – und sich zugleich gegenseitig zerfleischen.
Die Handlung
Der Dramenzyklus erzählt vom Aufstieg einer Familie im wilhelminischen Deutschland: „Die Hose“ handelt vom Kleinbürger Theobald Maske, der einen Sitten-Skandal befürchtet, als seine Frau auf offener Straße ihre Unterhose verliert. Aber stattdessen lockt der Fall der Hose zwei Untermieter an, die Frau Maske (eher platonisch) begehren. Erfreut über die Mieteinnahmen, hat Theobald keine moralischen Bedenken, sich selbst heimlich an die Nachbarin ranzumachen (ganz unplatonisch). Das zweite Stück, „Der Snob“, zeigt, wie Maskes Sohn Christian zum mächtigsten Industriellen des Landes aufsteigt und aus Prestigegründen eine Gräfin heiratet – aber sich seiner einfachen Eltern schämt. In „1913“ schließlich erleben wir den gealterten Patriarchen Christian im Kampf mit seiner rücksichtslosen Tochter, während seine anderen beiden Kinder bloß selbstverliebt dem Luxus frönen.
Aber zum Glück hat Jürgen Kuttner hier nicht nur als Regisseur gewirkt, sondern er macht auch das, was er wirklich kann: Zwischendurch tritt er im Frack an die Rampe, unterbricht das Bühnengeschehen und hält einen ebenso intelligenten wie durchgeknallten Kurzvortrag, wo er erklärt, wie man sich heute zum Bürger hochstapelt: Indem man „Die Zeit“ liest und „Weinkenntnisse simuliert“. Dann schlägt er einen herrlich absurden Bogen vom Philosophen Descartes („Ich denke, also bin ich“) zur Schlagersängerin Juliane Werding („Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur du denkst“) und lässt deren Auftritt in der Hitparade bei Dieter Thomas Heck als flimmerndes Vintage-Filmchen der Siebzigerjahre über die Video-Leinwand flackern – auch das eine Sternstunde aus dem bürgerlichen Heldenleben.
Höflicher Applaus.
Nächste Vorstellungen am 25. Februar sowie am 4., 13., 23. und 29. März; Telefon 089/ 21 85 19 40.
Alexander Altmann