„Er bleibt einzigartig“: Piotr Beczala über Enrico Caruso

Schon zu Lebzeiten galt Enrico Caruso als Legende. Mit seinem Gesang löste er eine Revolution in der Operngeschichte aus. Wir haben zu Carusos 150. Geburtstag am 25. Februar mit einem Star-Tenor unserer Zeit über dieses Phänomen gesprochen. Piotr Beczala singt gerade an der New Yorker Met, dem einstigen Stammhaus seines großen Vorgängers, Wagners „Lohengrin“.

Luciano Pavarotti hat gesagt „Alle Tenöre des 20. Jahrhunderts haben sich an Caruso ausgerichtet“. Können Sie das unterschreiben?
Ja. Wobei man natürlich das Repertoire berücksichtigen muss: Kein Mozart-Tenor wird das unterschreiben. Aber für Tenöre, die im sogenannten großen Repertoire unterwegs sind, gilt das. Gerade habe ich als Loris in Giordanos „Fedora“ an der Met debütiert, mit dieser Rolle hatte Caruso seinen Durchbruch. Auch der Maurizio in Cileas „Adriana Lecouvreur“ stand am Anfang seiner Karriere. Aus meiner heutigen Sicht sind solche schweren Partien zu diesem frühen Zeitpunkt kaum vorstellbar. Ein 20-jähriger Tenor hat eigentlich in diesem Repertoire nichts zu suchen.
Warum konnte Caruso zu Beginn seiner Karriere das riskieren? Hat man anders gesungen? Haben die Orchester anders gespielt?
Beides. Wir sind heute verwöhnt und auch verdorben durch einen üppigen Orchesterklang. Und auch durch die Tenorstimmen der vergangenen 70 Jahre. Das 19. Jahrhundert war vollkommen anders geprägt, was den Tenorklang betrifft. Das hatte zu tun mit einer total anderen Gesangstechnik. Die hohen Töne zum Beispiel wurden mit viel weniger Bruststimme gesungen. Hipólito Lázaro (1887-1974) etwa gestaltete vieles mit Voix mixte, und trotzdem gab es bei ihm schon Töne, die man zum modernen Stil rechnen konnte. Caruso war der erste veristische Tenor. Seine Singweise war damals so modern und neu, dass er eine Epoche beendet und zugleich eine neue begonnen hat.
Ging durch seinen Stil auch etwas verloren? Wurde der Tenorgesang zu veristisch?
Das würde ich nicht sagen. Es war eine stilistische Erweiterung. Auch weil er ein so breites Repertoire hatte. Noch in seiner letzten Spielzeit hat er den lyrischen Nemorino in Donizettis „Liebestrank“ gesungen. Nach seinem Tod war kein einziger Tenor dazu imstande, das ganze Spektrum von Nemorino bis Verdis Otello zu bedienen. Deshalb konnten die Tenöre nach ihm gar nicht „auf Caruso-Art“ singen – auch wenn sie es versuchten. In meiner Generation war es wiederum so, dass viele probierten, Franco Corelli oder Mario Del Monaco nachzuahmen. Es gibt die Geschichte von Fritz Wunderlich, der neben Del Monacos Otello als Cassio engagiert war – und versuchte, dreimal mehr Stimme zu geben, als er hatte.
Trotzdem hat Caruso manche auch irritiert.
Ich habe in New York Menschen kennengelernt, die Caruso noch live gehört haben. Es sei unglaublich und fast erschreckend gewesen, wie voll, robust und präsent seine Stimme war. Andererseits gibt es auch negative Berichte über ihn. Weil seine Art zu singen sehr physisch war und ungewöhnlich für damals. Dass ein Tenor rot anläuft bei einem hohen Ton, kannte man nicht. Zuvor haben die Kollegen mit viel mehr Kopfstimmenresonanz gesungen. Caruso galt daher bei einigen auch als unelegant. Heute ist das selbstverständlich. Weil das Physische in der Oper auch immer wichtiger wurde.
Es heißt immer, Caruso sei kein Intellektueller gewesen. War sein Gesang also mehr intuitiv als reflektiert?
Ich bin vollkommen davon überzeugt, dass er hochintelligent war. Und das hat nichts mit dem IQ zu tun. Es hat zu tun mit künstlerischer Intelligenz. Mit der Art zu singen eben, mit der Rollenauswahl, mit seiner Karriere-Strategie. Er hat ja das Buch „How to sing“ geschrieben, also hat er sich intensiv mit seinem Beruf und mit Gesangstechnik beschäftigt.
Und er hat unglaublich viel gesungen. War das gesund?
Seine Spielzeiten waren tatsächlich sehr voll. Was er alles in seiner 27-jährigen Karriere geleistet hat, ist sehr beeindruckend. Von seiner Stimmnatur her war Caruso ein kurzer Tenor, also einer mit nicht sehr ausgeprägter Höhe. Ich kann nachvollziehen, wie sich das anfühlt, weil ich auch einer war. Und ich weiß, wie viel Arbeit notwendig ist, um sich die Höhe zu erobern. Carusos voller Terminkalender ist aber relativ zu sehen. Das waren damals andere Bedingungen. Die Orchester waren leiser und die Inszenierungen einfach. Ein Stuhl, ein Tisch, und die Sänger mussten sich nicht viel bewegen. Caruso ging anfangs oft mit kleinen Operntruppen auf Tournee. Acht Vorstellungen mit drei verschiedenen Opern in einer Woche, das klingt nach Wahnsinn. Aber: Er hat damals nicht die komplette Rolle gesungen so wie wir heute. In „La traviata“ hat er sicher Alfredos Cabaletta weggelassen. Das Duett mit Violetta wurde gekürzt, auch an den Akt-Finali dürfte er sich nicht beteiligt haben. Das waren nur halbe Rollen eigentlich. Nur so kann man das überleben.
Oft wird darauf hingewiesen, dass Caruso ohne die Grammophon-Aufnahmen nicht diese Bedeutung erlangt hätte. Außerdem begünstige jede Aufnahmetechnik das Frequenzspektrum der Tenöre. Haben es die hier leichter als Soprane?
Auf jeden Fall. Ich habe eine solche Erfahrung vor ein paar Jahren gemacht, als ich mit der Sopranistin Susanna Phillips in einen solchen Trichter von 1904 hineingesungen habe. Sie war nicht ganz glücklich mit dem, was dann zu hören war. Carusos Karriere wurde stark dadurch gefördert, dass er einer der ersten Tenöre der Aufnahmegeschichte war. Er war auf dem Plattenmarkt enorm populär, zu vergleichen nur später mit den Beatles.
Ist Caruso auch deshalb Vertreter einer untergegangenen Epoche, weil es solche Divos wie ihn später nicht mehr gab?
Die gibt es tatsächlich nicht mehr. Gut, nehmen wir die drei Tenöre, das war ein ähnliches Phänomen. Aber Caruso bleibt trotzdem einzigartig. Wir heute sind Teil eines Systems und bauen als Künstler eher gemeinsam eine Produktion auf. Damals wurde sie um einen Künstler herumgebaut. Wenn Caruso absagte, wurde die Oper vom Spielplan genommen. Eigentlich kann man sogar die Karrieren von Maria Callas und Renata Tebaldi nicht mit denen von Nellie Melba und Adelina Patti vergleichen. Letztere waren Göttinnen, weit entrückt, von denen ein ganzes System abhing. Das hat sich mit den Jahrzehnten immer weiter professionalisiert. Wir sind heute mehr künstlerische Arbeiter als Divos. Ich habe kein Problem damit. Ich muss nicht mit dem roten Ferrari zur Probe fahren und vorher Champagner zum Frühstück trinken.
Aber ist diese Professionalisierung, also die Entwicklung zum Arbeiter, nicht auch zu bedauern? Sie müssen noch mehr funktionieren und sind ein Rad im Getriebe.
Wir haben mehr Verpflichtungen. Damals war nicht daran zu denken, dass Caruso um zehn Uhr vormittags eine Orchesterprobe gesungen hätte. Der Lebens- und Künstlerrhythmus war vollkommen anders. Ich hätte heute auch keine Lust, in Anzug und Krawatte bei einer Probe zu erscheinen. Ich kenne Geschichten vom polnischen Tenor Jean de Reszke (1850-1925), der vor Caruso König der Met war. Er schrieb einmal, dass man die Hüte auf der Probe abnehmen durfte, weil keine Dame anwesend war. Heute haben wir Probenkostüme, Proben-T-Shirts und wälzen uns auf der Bühne herum zur großen Freude der Regisseure.
Im Gegensatz zu damals verzeiht man den Stars fast nichts mehr. Ohne gleich an #MeToo zu denken: Allüren und Eskapaden waren eher möglich.
Ich weiß nicht. Heute haben doch alle Handys. Alles wird fotografiert oder mitgeschnitten und wird gleich gepostet. Fehler werden sofort weltweit bekannt. Überall erfährt man fünf Minuten, nachdem ein Tenor gekiekst hat, davon. Und was #MeToo betrifft: Auch damals wurde zum Beispiel Caruso von einer Dame beschuldigt, er sei sexuell übergriffig geworden.
Es gibt die Meinung, dass nach Caruso – abgesehen von Puccinis „Turandot“ – keine explizite Gesangsoper mehr geschrieben wurde. Bedeutete also sein Tod auch einen Einschnitt in der Kompositionsgeschichte?
Ich bin kein Experte für moderne Musik und würde das nicht unbedingt mit dem Tod Carusos verbinden. Aber tatsächlich gab es bis dahin sehr singbare und dankbare Opern. Auch die frühen Lieder von Alban Berg sind noch kantabel, danach drifteten die Komponisten ins Stimmunfreundliche. Was noch entscheidend ist: Die Komponisten haben für bestimmte Künstler geschrieben. Später wurde das so gut wie komplett aufgegeben. Ich selbst habe kaum moderne Musik gesungen. Allerhöchstens aus den Zwanzigerjahren, „Le vin herbé“ von Frank Martin zum Beispiel.
Carusos Frau Dorothy sagte einmal: „Je mehr er sang, desto mehr verlangte die Welt von ihm. Er hat immer mehr nach Vollkommenheit gesucht und fand in sich kein Genügen mehr.“ Kennen Sie das Gefühl auch? Je prominenter man wird, desto mehr wird man zu seinem größten Konkurrenten?
Ja sicher. Stellen wir uns Caruso heute vor, wo fast jede Vorstellung von irgendjemandem mitgeschnitten wird. Wie hätte er sich erst jetzt gefühlt! Klar weiß man von sich, ob man gut war oder nicht. Und ich bin der Meinung, dass man auch noch über die beste Vorstellung hinausgehen kann. Es gibt keine künstlerischen Limits nach oben – gerade weil unsere Kunst nicht in Zentimetern oder Sekunden gemessen wird. Alle erwarten immer, dass der Sänger seine Form bestätigt oder toppt. Man kann sich keine Blöße leisten. Ich versuche immer, ehrlich zu singen. Eine halbe Aufführung lang nur markieren, um zwei, drei Spitzentöne herauszuschleudern und damit zu punkten, das ist nicht meins und außerdem künstlerisch falsch.
Caruso meinte: „Ein Sänger braucht einen breiten Brustkorb, ein großes Maul, 90 Prozent Gedächtnis, zehn Prozent Intelligenz, harte Arbeit und ein wenig im Herzen.“ Stimmt das?
Mit den Prozentzahlen und Proportionen würde ich vielleicht ein wenig spielen. Vor allem über die Intelligenzfrage müsste man diskutieren. Natürlich ist es eine vereinfachte Erklärung. Aber im Grunde hat er absolut Recht. Seine Physis, etwa 1,75 Meter groß und robust gebaut, hat ihm sicher nicht geschadet. Man weiß auch, dass er übergroße Stimmbänder hatte. Angeblich konnte sich seine Gaumen-Hinterwand um einige Zentimeter bewegen. Die Stimme bekam dadurch viel Raum. Das interessiert mich sehr, weil man durch diese zusätzliche Beweglichkeit seine Stimme viel mehr öffnen kann. Ganz komisch ist übrigens: Ich habe vor ein paar Tagen von Caruso geträumt. Ich war plötzlich in seiner Zeit, redete mit ihm, erzählte, dass ich auch Opernsänger bin…
…und was haben Sie ihn gefragt?
Davor bin ich wach geworden.
Das Gespräch führte Markus Thiel.