Hungern für Gold? Nicht mit Miri!

Es gibt unfassbar viele Betroffene – und doch sind Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie nach wie vor ein Tabuthema. Auch und gerade im Spitzensport. Miriam Neureuther, die über viele Jahre zur Weltspitze im Langlauf und im Biathlon gehörte, will die Mauer des Schweigens brechen. Gemeinsam mit der ehemaligen Weltklasse-Turnerin Kim Bui hat sie eine bemerkenswerte Doku gedreht: „Hungern für Gold“.
Wir sprachen mit der 32-Jährigen über Magerwahn, falsche Vorbilder und wie sie rechtzeitig die Kurve kriegte. „Keine Medaille der Welt ist es wert“, sagt die Ehefrau von Felix Neureuther und Mutter dreier Kinder, „dass man seine Gesundheit aufs Spiel setzt“.
Frau Neureuther, warum ist das Thema Essstörungen im Spitzensport derart tabuisiert?
Miriam Neureuther: Ich glaube, viele denken, es sei ein menschliches Versagen, wenn man es nicht schafft zu essen. Viele schämen sich dafür. Das genau braucht man aber nicht – zumal es in den meisten Fällen einen Auslöser gibt. Von allein fängt keiner an zu hungern. Meistens ist es das falsche Umfeld, das einen treibt.
Das ist auch Ihre Erfahrung. Sie sagen in der Doku: „Es wurde Druck ausgeübt, dass ich abnehmen muss, um noch schneller laufen zu können.“
Neureuther: Ja, das war so.
Von welcher Zeit sprechen wir?
Neureuther: 2011/2012. Da hatte ich eine Operation, und danach wog ich vier Kilo mehr als sonst. Das hat mich persönlich gar nicht belastet. Ich hatte mir bis dahin eigentlich nie Gedanken über mein Gewicht gemacht. Essen hat mir immer Spaß gemacht, ich esse auch heute noch sehr gern (Lacht.). Dann aber wurde mir auf einmal vermittelt, ich sollte weniger essen.
Wie lief das ab?
Neureuther: Subtil. Nach dem Motto: Miri, braucht es diesen Kuchen jetzt wirklich? Ich war damals grad Weltmeisterin geworden, und das Erste, was mir gesagt wurde, war: „Stell dir vor, wie viel schneller du gewesen wärst, hättest du drei Kilo weniger gehabt.“ Das ging immer so weiter. Bis ich mich irgendwann am Tisch überhaupt nicht mehr wohlgefühlt habe und vor diesen „Bestimmern“ keinen Kuchen mehr essen wollte.
Wer waren diese Personen?
Neureuther: Namentlich werde ich sie nicht nennen. Es war ein Trainer aus dem Stab der Weltcup-Mannschaft – nicht mein Heimtrainer – und ein Mannschaftsarzt. Die haben mir beide regelrecht die Pistole auf die Brust gesetzt und gesagt, dass ich abnehmen müsse, wenn ich wieder bei Wettkämpfen starten möchte.
Wie ging es weiter?
Neureuther: Ich habe weniger gegessen und tatsächlich krass abgenommen. Zehn Kilo! Eine Zahn-OP tat damals ihr Übriges. Ich war sicher an meinem persönlichen unteren Gewichtslimit. Mit dem Ergebnis, dass dieselben Leute, die mir erst gesagt hatten, ich müsste abnehmen, nun sagten, ich müsse zunehmen. Da hab ich mir wirklich gedacht: Wollt ihr mich, Entschuldigung, verarschen? Ich habe aber die Anweisung befolgt und wieder zugenommen. Dann passierte mir ein schwerer Radl-Unfall. Ergebnis: wieder drei Kilo zu viel. Dann ging alles von vorn los. Ich sollte abnehmen. Das war der Moment, in dem ich gedacht habe: Nein. Das mache ich nicht mehr mit.
Sie wollten Ihre Gesundheit nicht gefährden.
Neureuther: Genau. Keine Medaille der Welt ist es wert, dass man seine Gesundheit aufs Spiel setzt. Und: Ich wusste schon während meiner aktiven Karriere, dass ich Kinder haben möchte. Das war mir immer wichtiger als der Erfolg. Ich wollte also keine krasse Diät mehr machen, nicht wieder ins Untergewicht rutschen und damit riskieren, dass ich irgendwann keine Kinder kriegen kann. Das ist nämlich oft die Folge einer Essstörung. Zum Glück passte aber meine Familie gut auf mich auf.
Das ist sicher ein wichtiger Punkt, das familiäre Umfeld.
Neureuther: Auf jeden Fall. Ich erinnere mich an eine Geschichte, die meine Mutter mir erzählt hat: Als ich so 15 war und in die Pubertät kam, habe ich natürlich einen Busen bekommen, einen Hintern, der Körper verändert sich. In der Zeit hat ein Trainer zu meiner Mutter gemeint: „Du, die Miri hat ja auch ein bisschen zugelegt.“ Da hat meine Mutter zu ihm gesagt: „Ich warne dich, wenn du ein Wort darüber zu meiner Tochter sagst, werde ich reagieren. Meine Tochter ist gut und richtig genau so, wie sie ist.“ Diese Unterstützung haben aber nicht alle. Und der Leistungsdruck gerade bei jungen Athletinnen und Athleten ist heute enorm.
In Ihrem Film zeigen Sie Bilder von der Leichtathletin Konstanze Klosterhalfen, die unfassbar dünn ist und tatsächlich krank ausschaut. Ein Interview mit Ihnen für die Doku hat sie abgelehnt. Das ist bezeichnend.
Neureuther: Das bedaure ich sehr, denn ich hätte mich gerne mit ihr wegen solcher Verdachtsmomente unterhalten. Daher war mir auch der Austausch mit Kim in diesem Film so wichtig und lehrreich, denn ich selber hatte ja keine Essstörungen. In meinen Augen sollte man aber mit solchen möglichen Problemen offen umgehen. Da sind auch die Ärzte von Konstanze Klosterhalfen in der Verantwortung. Wenn sie ihre Gesundheit für den Sport opfern möchte, so ist das ihre Entscheidung. Ich wollte das nie. Und hatte Gott sei Dank ein Umfeld, das mich geschützt hat. Mir ist es jetzt einfach wichtig, auf das Thema aufmerksam zu machen. Daher die Doku.
Das Gespräch führte Stefanie Thyssen.
„Hungern für Gold“ läuft derzeit in der ARD- Mediathek, am 5. März um 17 in der „Sportschau“ im Ersten und am 8. März um 22 Uhr im BR Fernsehen. Am 5. März sind Miriam Neureuther und Kim Bui im „Blickpunkt Sport“
(21.45 Uhr, BR) zu Gast.