Kein Mann ist eine Insel

Mit dem Thriller „Der Anwalt“ kämpft John Grisham wieder spannend um das US-Rechtssystem
Die Überraschung hält sich auch beim 22. Buch von Bestseller-Produzent John Grisham in Grenzen. Wieder geht es um Schuld, Sühne und das Rechtssystem. Und wieder ist der Held ein junger Anwalt, der sich zwischen Idealismus und der Realität entscheiden muss. Und, Gott weiß warum, man liest es einmal mehr in einem Rutsch. Der mittlerweile 54-jährige Grisham beherrscht sein Handwerk, sofern es darum geht, den Leser, der leichtsinnig genug war, das Buch aufzuschlagen, zum Weiterlesen zu animieren. Solange man liest, ist man dran, will wissen, wie es weitergeht, wird in die Geschichte gesogen. Merkwürdig nur, dass man alles sofort vergisst, sobald man das Buch zur Seite legt. Aber immerhin: man legt dieses Buch erst aus der Hand, wenn man es zu Ende gelesen hat.
Bis dahin folgt man willig dem Werdegang des Jura-Studenten Kyle McAvoy, der in Yale zu einem künftigen Star- Anwalt ausgebildet wird. Alles deutet auf eine makellose Laufbahn und das große Geld hin. Kyle freilich hat zwei große Probleme: Das eine ist sein Vater. Der ist ebenfalls Anwalt, vertritt in der Provinz die kleinen Leute und ist das soziale Gewissen des jungen Aufsteigers. Das andere Problem ist sein früheres Lotterleben als Student. In seinem zweiten Studienjahr fielen zwei seiner Freunde während einer Party in seiner Studentenbude über ein Mädchen her. Kyle nicht. Aber er hat es auch nicht verhindert. Die Sache wurde seinerzeit nicht weiter verfolgt, holt ihn aber doch ein.
Kurz vor dem Abschluss taucht ein Unbekannter mit einem kompromittierenden Video jener Nacht auf und übernimmt die Kontrolle über Kyles Leben. Er schleust ihn in eine einflussreiche Kanzlei in New York ein. Kyle soll brisante Dokumente herausschmuggeln. Es geht um einen Rechtsstreit zwischen Rüstungskonzernen und einen Milliardenauftrag der Regierung.
Grishams Schilderung des totalen Kontrollverlustes, der schleichenden Isolation und Hilflosigkeit seines Protagonisten ist eindrucksvoll. Die Gehässigkeit, mit der das Treiben in der Edel-Kanzlei beschrieben wird, ist beachtlich. Der asoziale Wettbewerb der Anwälte untereinander, die unbarmherzige Übernahme der Lebenszeit der Angestellten, die ständig über ihr „FirmPhone“ erreichbar sein müssen, und die grotesken Rechnungen, die an die Mandanten gestellt werden – immer ist der Furor des früheren Anwaltes und Arbeiterkindes Grisham zu spüren, der für diese Verirrungen des Justizsystems kein Verständnis hat.
Trotzdem glaubt Grisham letztlich an das System und den Rechtsstaat, deswegen gibt es auch für Kyle noch Hoffnung. Aber erst, als er Hilfe sucht und annimmt. Kein Mann ist eine Insel, auch ein Anwalt nicht. Ach ja, auch wenn es wohl aussichtslos ist, gegen die Ignoranz des Verlagswesens anzugehen: Eine Übersetzung aus dem „Amerikanischen“ ist grober Unfug. Wie jeder Amerikaner gerne bestätigen wird, ist Englisch die Sprache, die in den USA gesprochen wird.
John Grisham: „Der Anwalt“. Übersetzerteam. Heyne Verlag, München. 447 Seiten; 21,95 Euro.
Zoran Gojic