Münchner Kammerspiele: So war die Premiere von „Nora & Die Freiheit einer Frau“

Mit „Nora & Die Freiheit einer Frau“ sind die Münchner Kammerspiele auch im Schauspielhaus in die Spielzeit 2022/23 gestartet. Regisseurin Felicitas Brucker inszenierte das „Double Feature“ aus Henrik Ibsen und Édouard Louis.
Leise rieselt der Schnee. Wie ein heimeliges Puppenhaus in der Vorweihnachtszeit erscheint die via Video projizierte Villa. Aber es braucht nur eine kleine Akzentverschiebung in Licht und Ton, dann wird klar: Die Idylle, die so treffend den ersten Akt in Henrik Ibsens „Nora“ illustriert, ist fragil. Das feudale Anwesen auf der Bühne der Münchner Kammerspiele birgt tatsächlich derart viel Grauen und Horror, dass es sich Hitchcock für „Psycho“ nicht subtiler hätte ausdenken können.
Münchner Kammerspiele: „Nora“ ist der Abend der Katharina Bach
So trägt der Abend, den Regisseurin Felicitas Brucker clever zwischen opulent und nüchtern pendelnd arrangiert hat, zwar noch die Grundzüge von Ibsens Ehedrama: Der Mann Thorvald Helmer hat wenig Bezug zum Emotionalen, Gattin Nora gibt das Geld aus und hütet Heim und Brut. Derweil der Hausfreund und andere von der Familie abhängige Gestalten die Szenerie bis zum Finale umschwirren wie Motten eine Lichtquelle. Doch Brucker hat die kürzlich als „Dramatikerin des Jahres“ gefeierte Sivan Ben Yishai, in München durch „Like Lovers do (Memoiren der Medusa)“ in bester Erinnerung, um eine frische, sehr kurzweilige Ouvertüre für „Nora“ gebeten. Diese sowie die Texterweiterungen von Ivna Žic und Gerhild Steinbuch verändern den Blick auf Ibsens Figuren. Der hat sein Stück 1879 uraufgeführt und war unberührt von Stroboskop-Licht und hämmernden Metal-Klängen, von gruseligen Horrorfilm-Kindern in gelben Kapuzen oder Männern in Damenunterröcken. Einfach von allem, mit dem Brucker seinen Kosmos jetzt stimmig erweitert.
Thomas Schmauser kehrt hiermit an die Münchner Kammerspiele zurück
Die verhängnisvollen Machtstrukturen zwischen Mann und Frau jedoch sowie der alles zersetzende Klassismus, das steckte schon im Ibsen drin. Brucker staubt all das mit ihrer die Dinge buchstäblich auf den Kopf stellenden, klugen Inszenierung frisch ab. Gerade weil die Nebenfiguren auf spannende Weise ins Zentrum geschoben werden, kommen in dieser „Nora“-Variation mehr Schauspieler zur Geltung als das Ehepaar Helmer. Vincent Redetzki und Svetlana Belesova beispielsweise, aber auch der mit dieser Aufführung an die Kammerspiele heimgekehrte Thomas Schmauser. Insgesamt ist es aber zweifellos Katharina Bachs Abend. (Lesen Sie hier unser Interview mit Katharina Bach.) Ihre Nora gibt sich anfangs neckisch-weibchenhaft, macht gute Miene zum ewig gleichen Spiel, ehe sie klare Kante beweist. Sie rockt sich mit rauchiger Altstimme in den Zuschauerraum oder krabbelt voller Energie wie eine Hochleistungssportlerin die schräge Bühne hinauf und hinunter. Edmund Telgenkämper zeigt die Wandlung Thorvalds vom freundlich-desinteressierten Gemahl hin zum Familientyrannen dazu sehr schön und anschaulich.
Édouard Louis schrieb „Die Freiheit einer Frau“
In einem reizvollen, allein schon optisch krassen Gegensatz steht das zweite Stück dieses „Double Features“ vor karger, weißer Wand: „Die Freiheit einer Frau“ vom französischen Literatur-Shooting-Star Édouard Louis. Der 1992 Geborene vermischt in seinen Romanen stets die eigene Biografie mit aktuellen Gesellschaftsstrukturen. Ausgehend von seiner proletarischen Herkunft, sezierte er in „Die Freiheit einer Frau“ scheinbar mitleidslos das Leben seiner Mutter. Erstaunlicherweise finden sich in seinem Monolog, im nunmehr verschlankten Ensemble von Bach, Telgenkämper und Schmauser wechselweise vorgetragen, viele Parallelen zur Figur der 140 Jahre vorher erdachten Nora. Schauerlich, wie wenig sich innerhalb von Paarbeziehungen seitdem getan hat. (Noch mehr Theater? Lesen Sie hier unsere Kritik zu „La mer sombre“ an den Münchner Kammerspielen sowie zu „Pussy Sludge“ am Münchner Volkstheater.)