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Pinakothek der Moderne München zeigt Friedrich Seidenstücker: Welch schöne Tiere wir sind!

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Von: Katja Kraft

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Rüsselknoten: „Ohne Titel (Zwei Elefanten)“ von Friedrich Seidenstücker.
Rüsselknoten: „Ohne Titel (Zwei Elefanten)“ von Friedrich Seidenstücker. © Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Die Sammlung Moderne Kunst in der Münchner Pinakothek der Moderne zeigt Friedrich Seidenstückers Fotokunst. Zur Eröffnung gibt‘s Grammophon-Musik von DJ Kalle Aldis Laar. Unser Ausstellungstipp!

Fotografieren kann ja heute jeder. Denkste! Die Technik allein macht’s nicht. Was zählt, ist das Gespür für den rechten Augenblick. Wer weiß, wann man klick machen muss, damit’s beim Betrachter klick macht, dem gelingt sie, die Momentaufnahme. Friedrich Seidenstücker (1882-1966) war ein Meister darin. Weil er zugleich ein Meister der Beobachtung war. Noch so eine Voraussetzung dafür, nicht bloß zufällige Abbildungen der Realität zu schaffen, sondern zugleich die Stimmung, die in der Luft liegt, einzufangen. Auch: ein Lebensgefühl, ein gesellschaftliches Klima. Oder bei Porträts neben den individuellen Schicksalen das Milieu, in dem sie sich ereignen.

Da guckst du: „Walrosse“ (1932), fotografiert von Friedrich Seidenstücker im Zoologischen Garten Berlin.
Da guckst du: „Walrosse“ (1932), fotografiert von Friedrich Seidenstücker im Zoologischen Garten Berlin. © Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Und weil Seidenstücker seine Motive mit so viel Witz und Einfühlungsvermögen, Menschen- und Tierliebe (!) wählt, macht das Betrachten der rund 100 Fotografien, die von ihm nun in der Sammlung Moderne Kunst zu sehen sind, in erster Linie großen Spaß. Besonders der letzte der drei Ausstellungsräume. Hier präsentiert Kuratorin Simone Förster ab 26. Mai 2023 die Schätze, die wohl auch dem Künstler die liebsten waren. Der von ihm selbst verbreiteten Legende nach soll er ja 1904 aus dem nordrhein-westfälischen Unna in die Hauptstadt gezogen sein, um regelmäßig in den Berliner Zoo gehen zu können.

Dort zeichnet er Nashörner, Nilpferde, Elefanten und all die anderen Tiere, die ihn so faszinieren. Schreibt sich für Bildhauerei an der Hochschule für Bildende Künste ein, doch das währt nicht lang. Zwei Jahre später bricht er das Studium ab. Das in der Zwischenzeit begonnene heimliche Fotografieren im Zoo aber treibt er weiter. Nimmt nach dem Ersten Weltkrieg auch das Bildhauereistudium wieder auf und schließt es 1923 ab. Der für ihn persönlich vermutlich noch größere Erfolg in diesem Jahr: Er erhält sie endlich, endlich, die lang ersehnte offizielle Fotografieerlaubnis vom Zoologischen Garten Berlin. Er wird zu einem seiner bekanntesten Fotografen avancieren.

Trotz allem: Ein Bub in der Hose seines verstorbenen Papas (ca. 1950).
Trotz allem: Ein Bub in der Hose seines verstorbenen Papas (ca. 1950). © Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Simone Förster ist Leiterin der Sammlung Ann und Jürgen Wilde, die seit 2010 den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen angegliedert ist und der man unter anderem 200 Seidenstücker-Werke im Bestand zu verdanken hat. Das Besondere daran sind neben den zauberhaften Tierbildern die der Menschen in der Stadt. Mit seiner kleinen Kamera flaniert Seidenstücker durch die Straßen des grauen Vor- und Nachkriegsberlins. Und schafft es, diese Zeit und diese Großstadt sofort lebendig werden zu lassen. Bruchteile einer Sekunde, im Negativformat neun mal zwölf Zentimetern festgehalten, die alles erzählen. Der Bub zum Beispiel, der da so fröhlich aus einer viel zu großen Hose grinst, die er sich bis über die Schultern gezogen hat. Wieder: auf den ersten Blick ein süßer Schnappschuss. Der Titel des Fotos verrät die ganze Wahrheit: „In Nachlasssachen seines Vaters“ (ca. 1950). Der Papa lebt nicht mehr. Wie so viele Väter, auf deren Rückkehr aus dem Krieg Frauen und Kinder vergeblich warteten.

Aufgetaucht: „Glanzschichten“ (1925).
Aufgetaucht: „Glanzschichten“ (1925). © Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Doch das hier sind eben keine Betroffenheitsbilder. Es sind vor Wahrhaftigkeit strotzende Dokumentationen davon, wie stark der Mensch ist. Wie er sich dem Schicksal entgegenstellt, immer wieder ein „Trotz allem“. Die Damen, die beherzt über die großen Pfützen vor dem Zoologischen Garten hüpfen; der Bub, der aus einer alten Papiertüte einen Drachen zimmert; oder die Arbeiter, die der Plackerei mit einem Sprung in den Wannsee entfliehen. Am Wochenende, bevor am Montag „wieder Arbeit, wieder Alltag, wieder Woche“ beginnt. So heißt’s in Robert Siodmaks Stummfilm „Menschen am Sonntag“ (1930). Seidenstückers Bilder wirken wie eine Fortführung des Films. Am 1. Juni 2023 ab 19 Uhr wird Siodmaks Werk im Münchner Filmmuseum gezeigt. Erst in die Ausstellung, dann dorthin. Belebt. Die feierliche Eröffnung mit Musik des DJs Kalle Aldis Laar ist am 25. Mai 2023 um 18 Uhr. Von 26. Mai 2023 bis 4. September 2023 in der Sammlung Moderne Kunst, Pinakothek der Moderne (Säle 22-24); täglich (außer Montag) 10 bis 18, Do. bis 20 Uhr.

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