"Der Kirschgarten": Krachen und Heulen

München - Calixto Bieito inszenierte fürs Münchner Residenztheater Anton Tschechows Stück „Der Kirschgarten“. Lesen Sie hier die Premierenkritik:
Zwei Plätze weiter in Reihe fünf Mitte sitzt ein Mann und schläft. Krank? Jetlag? Keine Spur. Es ist Lopachin, der reiche Kaufmann und Prolet in Gestalt des Schauspielers Guntram Brattia, der unterm Publikum die Wodkaflasche herumgehen lässt und ihm Bücher zuwirft, die er „nicht versteht“ („Der Zauberzwerg“, Nietzsche). Kurzer Dialog vom Parkett zur Bühne mit dem Dienstmädchen Dunjascha (Katrin Röver). Dann fällt mit Karacho der Vorhang der eleganten Hausfassade der Gutsherrin Ranewskaja zu Boden, Brattia springt auf die Bühne, und man ist in einem entkernten, fensterreichen, kahlen Raum, den sich Rebecca Ringst für Tschechows „Kirschgarten“ ausgedacht hat.
Der wird ja zurzeit allüberall inszeniert. Wohl auch, weil man in den Zusammenbrüchen und der Zeitenwende, die darin vor gut 100 Jahren beschrieben wurden, Parallelen zu unseren Tagen sieht. Das Dumme ist nur: Je direkter man darauf abzielt, desto gequälter wird es, und desto weniger schimmert auch nur eine Ahnung von dem eigentlichen Stück durch. Dass das Werkzeug des Katalanen Calixto Bieito nicht gerade der Silbergriffel ist, weiß man. Es könnte ja ganz erfrischend sein, wenn er an dieses Stück, das der Autor selber als Komödie sah, beherzter heranginge als mit dem alten, ein bisschen aus der Mode gekommenen bittersüßen Wehmutston. Aber fast zweieinhalb pausenlose Stunden Krachen und Heulen, Überdrehtheit und Geschrei von praktisch allen Beteiligten, bis man kaum mehr etwas versteht von dem Text in Alexander Nitzbergs brauchbarer Fassung, das wurde schon lästig.
Alle Viertelstunde bricht das ramponierte Gutshaus um noch ein Stück ein. Der Boden zertrampelt, Möbel zerhackt – warum? Wir hören, wie die aus Paris zurückgekehrte Ranewskaja sich über das Wiedersehen mit ihrem Kinderzimmer, ihrem Heimathaus freut. Davon ist nichts mehr da. Nur ein Stapel Vuitton-Koffer zeugt von verflossenem Reichtum. Das Ärgerliche ist aber, dass ihr, der exzentrischen Dame mit großen theatralischen Gefühlen und leicht anrüchigem Lebenswandel, dieses Alleinstellungsmerkmal weginszeniert wurde. Wenn alle – und jeder hat hier seinen Tick – genau so exaltiert sind wie sie, wie kann sie dann Profil gewinnen?
Das ist die Schwierigkeit für Sophie von Kessel, die hier darum kämpft, sich unter die Schicht der bloßen Gesellschaftsdame hindurch zu arbeiten. Dem wilden Bieito geht es immer um betontes Körpertheater. Daher lässt er den erstaunlich durchtrainierten Brattia weit von der Leine. Der legt eine Prüfung als Fassadenkletterer ab und darf als reicher Käufer des von der Familie geliebten Kirschgartens so brutal und übergriffig sein, wie man noch keinen erlebt hat. Das Fest, in jeder Aufführung ein Tanz auf dem Vulkan von Leuten, die ihre Situation nicht wahrhaben wollen, wird hier zu einer wüsten Orgie, angeheizt von einer echten Salsa-Band. Alles um drei Stufen zu laut und zu grell.
Leise Töne, die umso nachdrücklicher im Gedächtnis bleiben: Manfred Zapatka als sanft geschwätziger Gajew mit einem symathischen Schuss Selbstironie und die kurzfristig eingesprungene Friederike Ott als Warja. Die faltet, vom wochenlangen Probenbetrieb offenbar nicht berührt, in Ruhe ihre entsagungsvolle Rolle auf – ernst und konzentriert wie die junge Cordula Trantow. Den am Schluss vergessenen und im Haus eingesperrten alten Diener Firs muss Jürgen Stössinger auf total offener Bühne spielen. Da wird er es, entgegen Tschechows Absicht, noch bis zum Notarzt schaffen...
Neue Einsichten hat dieser teils wütend, teils beifällig aufgenommene harsche Zugriff auf ein altes Stück jedenfalls nicht gebracht.
Nächste Vorstellungen am 24., 28. Mai und am 1., 2., 6. Juni; Karten unter Telefon 089/ 21 85 19 40
Beate Kayser