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„Sehr deutsch“: Schriftsteller Max Czollek über antisemitische Kritik an Pianist Igor Levit

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Von: Markus Thiel

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Pianist Igor Levit am Klavier
Nicht nur über sein Klavierspiel, auch über seine politische Haltung definiert sich der Pianist Igor Levit. © Felix Broede/Sony Classical

Der Künstler solle gefälligst Kunst machen und nicht Politik, das ist für Autor Max Czollek eine typisch deutsche Haltung - nicht nur in der antisemitischen Debatte um den Pianisten Igor Levit.

Am Ende musste es die Kolumnistin richten. Carolin Emcke fand in der „Süddeutschen Zeitung“ klare, mitfühlende, reflektierte Worte für Igor Levit, der im selben Medium mit einer verschwurbelten, antisemitisch gefärbten Kritik verunglimpft worden war. Es war nicht das erste Mal, seit Wochen sieht sich der Pianist, der sich nicht nur über seine Kunst, sondern auch über seine Haltung definiert, Demütigungen ausgesetzt. Kein Einzelfall und typisch deutsch, wie der jüdische Autor Max Czollek findet.

Schriftsteller Max Czollek
Max Czollek ist Lyriker und politischer Essayist. Zuletzt erschien seine Streitschrift „Gegenwartsbewältigung“. © Konstantin Boerner

Wie hat sich ein Künstler in der deutschen Gesellschaft zu benehmen?

Czollek: Ganz offensichtlich nimmt man dem Künstler übel, dass er sich nicht nur zur Kunst äußert. Man muss allerdings im Falle Levit zwei Dinge unterscheiden. Der eine Aspekt ist die sehr deutsche, Post-1945er-Erfindung einer Kultur, die frei ist von jeglicher Bezugnahme auf die Gesellschaft und die auf diese Weise freigehalten werden soll von Gesellschaftskritik. So etwas finde ich hochgradig irreal: die Erfindung einer „guten Kultur“ als Orientierungsmaßstab für eine deutsche Gesellschaft als Gegensatz zur „bösen Politik“, die man für überwunden hält. Und darum gilt ein politisch engagierter Künstler wie Levit als verdächtig. Der andere Aspekt betrifft die ganz spezifische Rolle, die jüdische Künstlerinnen und Künstler in der Nachkriegsgesellschaft zu spielen hatten und haben. Jüdische Kunst liefert eine Art Treibstoff für das deutsche Bedürfnis nach Wiedergutwerdung. Da stört Igor Levit. Der soll der deutschen Seite eigentlich ein Wohlempfinden vermitteln und nicht den zornigen, bösen Juden geben.

Es gibt noch einen anderen jüdischen Pianisten, Daniel Barenboim, der seit Jahrzehnten gesellschaftskritisch unterwegs ist. Wird ihm das nicht angekreidet, weil es sich um außenpolitische Themen handelt und er quasi Deutschland nicht „beschmutzt“?

Czollek: Das ist genau der Punkt! Jemand, der im Palästina-Konflikt um Versöhnung bemüht ist, der ist bei uns herzlich willkommen. Dem würde man niemals zur Last legen, dass er eine politisierte Kunst macht. Aber jemand wie Igor Levit, der gegen antisemitische Anfeindungen vorgeht und klar Position gegen eine deutsche Rechte bezieht, der ist verdächtig. Das ist kein Zufall. Und auch wenn wir uns die deutschen Reaktionen auf „Black Lives matter“ anschauen, scheint es tatsächlich leichter zu sein, über die Diskriminierung bei den anderen nachzudenken als über die Realität rechter Gewalt in Deutschland. Man muss sich nur einmal vorstellen, was dieser permanente rassistische, antisemitische und hetzerische Druck für Menschen bedeutet, ob nun in der Öffentlichkeit oder privat. Und dann wird Levit seine Gegenwehr auch noch zum Vorwurf gemacht.

Die Vokabel „Opferanspruchsideologie“ in der „Süddeutschen Zeitung“ oder einige Wochen zuvor die Klage im „Mannheimer Morgen“, man dürfe nicht mal mehr einen „Judenwitz“ machen und davon nicht „jüdische Witze“ unterschied: Sind das Äußerungen, die den Autoren passieren? Ein Versehen? Oder wie bewusst ist dies?

Czollek: Das Interessante ist doch, dass man in Deutschland nach 1945 einen Konsens gefunden hat, dem alle zustimmen können: Wir sind keine Nazis mehr! Dieser Konsens ist so sehr zum Teil des eigenen Selbstbildes geworden, dass selbst die Antisemiten glauben, dass sie mit dem Nazitum nichts mehr zu tun haben. In so einer Situation ist die ritualhafte Versicherung, man habe es doch nicht so gemeint wie von der „SZ“-Redaktion im Falle Levit, nicht hilfreich. Niemand hat es je so gemeint – was soll dann also die Entschuldigung, wenn sie nicht bedeutet, dass man endlich an die Strukturen geht, die dahinter liegen und so ein Denken überhaupt erst möglich machen?

Überrascht Sie dieser Alltagsantisemitismus im Feuilleton?

Czollek: Er war ja nie weg! Nehmen Sie nur die Karikatur von Burkhard Mohr in der „SZ“, als eine Datenkrake mit dem Gesicht von Mark Zuckerberg gezeigt wurde, die wie eine antijüdische Hetzzeichnung aussieht. Oder die Karikatur von Dieter Hanitzsch. Oder die eigentümliche Verwendung eines Bildes von Ernst Krahl im Kontext zweier Israel-Bücher. Alles in der „Süddeutschen Zeitung“. Ist das nicht dasselbe Phänomen wie im Zusammenhang mit rechten Terroranschlägen, wo immer nur von „Einzelfällen“ gesprochen wird? Auf Biegen und Brechen will man nicht von diskriminierenden Strukturen reden. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass es sich dabei gerade um eine liberale Zeitung handelt, die sich gar nicht vorstellen kann, selbst noch im Strom dieser deutschen Geschichte zu stehen. Aber genau so sieht es eben aus.

Haben es Literaten wie Sie leichter als Musiker, die man am liebsten nur spielend und singend auf der Bühne haben möchte?

Czollek: Vielleicht habe ich es als politischer Essayist leichter. Ich als Lyriker dagegen bin in einer vergleichbar schwierigeren Situation. Lyrik mit Gesellschaftsbezug ist anrüchig, im besten Fall sagt man so etwas wie: Es ist zwar politische Lyrik, aber sie ist auch gut gemacht. An dieser Stelle möchte ich aber auch wie zu Beginn auf den zweiten Aspekt verweisen: dass die jüdische Seite ständig zum Antisemitismus befragt wird. Und das passiert ja auch gerade hier, in diesem Gespräch. Mir geht es eigentlich um was ganz anderes: nämlich um ein anderes Kunstverständnis, in welchem sich der Künstler und die Künstlerin als Teil von Gesellschaft reflektieren. Und ich meine, dass da gerade etwas in Bewegung gerät, etwas, das im Theater angefangen hat: ein stärkeres Bewusstsein für die Position von Künstlerinnen und Künstlern und der aufkommende Gedanke, dass Kunst eben nicht „unschuldig“ ist.

Sind also die Künstlerinnen und Künstler noch zu still?

Czollek: Levit auf jeden Fall nicht! Ich hoffe bloß, dass der Rest der Zunft nicht zu spät kommt. Seit dem Aufstieg von Pegida und der AfD, die mit Macht in die Kulturpolitik drängt und die Finanzierung von künstlerischen Räumen aktiv verhindern will, steht die Frage doch noch stärker im Zentrum: Reagieren wir Künstler und Künstlerinnen als Staatsbürger? Oder gibt es auch genuin künstlerische Mittel der Wehrhaftigkeit? Dazu entwickle ich mit dem Schriftsteller Jo Frank seit einiger Zeit das Konzept der „wehrhaften Poesie“. Und ich meine, dass sich so noch ganz andere Widerstandsräume öffnen, die über den politischen Raum hinausgehen. Ich würde also den Kritikern von Igor Levit entgegnen: Das alles geht noch gar nicht weit genug!

Im Grunde dreht sich dies alles um die Verfasstheit einer Gemeinschaft und wen sie toleriert. Sie thematisieren in Ihrem Buch, wie sich die deutsche Gesellschaft zu den Corona-Einschränkungen verhält, wen sie gedenkt, damit zu schützen – und wen nicht. Hat sich dies in den vergangenen Monaten verändert?

Czollek: Der Begriff, den ich benutze, ist die „begrenzte Solidarität“. Ein aktuelles Beispiel ist die Frage: Wer ist eigentlich für die steigenden Fallzahlen verantwortlich? Wir haben einen Berliner Stadtteil wie Neukölln, der eine ganze Zeit lang an der Spitze der deutschen Statistik rangierte. Und der gesellschaftliche Diskurs drehte sich darum: Das liegt an den Jugendlichen, an den Clans, die in Großfamilien wohnen, wo es eng und schmutzig ist und die nicht kontrolliert werden können. Alle Vorurteile über Migranten, Muslime und eine Unterschicht wurden in diesen Zuschreibungen sichtbar. Und dann wird plötzlich Berchtesgaden zum Hotspot Nummer eins. Eine wohlhabende Gegend. Und es herrscht: Stille. Und diese Stille ist natürlich auch Ausdruck davon, wer Solidarität verdient und wer tendenziell für das eigene Unglück selbst verantwortlich gemacht wird.

Sie propagieren als einen Ausweg eine „jüdisch-muslimische Leitkultur“. Gerade in Bayern dürften da die Alarmglocken schrillen.

Czollek: Gut so. Wer als Erstes „Aua“ ruft, hat verloren. Bei der jüdisch-muslimischen Leitkultur handelt es sich nicht um eine Utopie, sondern um etwas, das heute schon Realität ist. Die Gesellschaft ist eine andere geworden. Und schon heute existieren in Kultur und Zivilgesellschaft Konzepte und Perspektiven, die diese radikale Vielfalt der Gesellschaft abbilden und denken können. Was nicht hinterherkommt, sind die politischen Konzepte. Die arbeiten weiterhin mit der Annahme, eine Gesellschaft brauche ein Zentrum und eine dominante Kultur, damit sie funktionieren kann. Damit behaupten sie weiterhin: Die größte Gefahr für eine Gesellschaft ist ihre Vielfalt. Gegen diese Vorstellung richten sich die Tage der jüdisch-muslimischen Leitkultur. Denn Vielfalt ist nicht die größte Gefahr für die plurale Demokratie. Sondern ihre Grundlage, die auch Grundlage ihrer Wehrhaftigkeit ist.

Ist eine Debatte wie die um Igor Levit eine Art Geburtswehe auf dem Weg zu diesem anderen gesellschaftlichen Bewusstsein?

Czollek: Die Sache ist noch nicht entschieden. Vor 100 Jahren war die deutsche Gesellschaft schon einmal auf dem Weg zu einer größeren Pluralisierung. Wir haben gesehen, was daraus wurde. Damals zerstörten die völkischen Homogenisierer die erste deutsche Demokratie unter Rückgriff auf ein völlig irreales Konzept von völkischer Reinheit und ethnischer Homogenität. Viele auch jüdische Menschen konnten damals nicht glauben, was da auf sie zukam, weil diese Nazi-Ideologie so absurd und auch albern wirkte. Wir sollten kein zweites Mal so naiv sein. Und darum müssen wir alle verfügbaren Kräfte anstrengen, dass es diesmal besser ausgeht.

Das Gespräch führte Markus Thiel.

Max Czollek, Jahrgang 1987, ist Lyriker und politischer Essayist. Zuletzt erschien von ihm seine Streitschrift „Gegenwartsbewältigung“ (Hanser, 20 Euro). Er kuratiert die „Tage der jüdisch-muslimischen Leitkultur“, die bis 9. November dauern und in mehreren deutschen Städten stattfinden.

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