So ist Salzburgs neuer „Jedermann“

Michael Sturmingers Neuinszenierung des „Jedermann“ mit Tobias Moretti in der Titelrolle eröffnete am Freitagabend die Salzburger Festspiele. Lesen Sie hier unsere Premierenkritik:
Salzburg – Steht einem der Tod im Rücken, gerät die Welt aus den Fugen. Ob arm oder reich, gut oder bös’: Wer die letzte Reise antritt, dem zieht’s den Boden unter den Füßen weg. So geht es Jedermann – in Michael Sturmingers Inszenierung wird in jenem Moment die Bühne zur Schräge. Alles gerät ins Schlingern, Rutschen, Stürzen: Stühle, Festtafel, Geschirr, Blumen und der reiche Mann, dessen Sterben hier verhandelt wird. Nur seine Gäste, die haben sich in Sicherheit gebracht. Natürlich.
Gewitter über dem Domplatz
Mit der Neuinszenierung des „Jedermann“ haben am Freitag die Salzburger Festspiele begonnen; da ein Unwetter über der Stadt tobte, musste die Premiere vom Domplatz ins Große Festspielhaus verlegt werden.
Eigentlich hatte man an der Salzach vorgehabt, diesen Sommer eine überarbeitete, zudem auf fast allen Positionen neu besetzte Version jener Inszenierung zu zeigen, die das britisch-amerikanische Duo Julian Crouch und Brian Mertes 2013 für die Festspiele erarbeitet hatte. Im April platzte der Plan, und Sturminger wurde engagiert. Der österreichische Theatermacher, der in München zuletzt fürs Gärtnerplatztheater Bellinis „La sonnambula“ einrichtete und hier auch mit dem John-Malkovich-Festspiel „Just call me God“ gastierte, sucht die größtmögliche Distanz zu den Vorgängern. Salzburg hat also tatsächlich einen neuen „Jedermann“ bekommen – und wer die putzig-harmlose Puppentheater-Variante von Crouch und Mertes erinnert, weiß diese Nachricht zu schätzen.
Die Inszenierung zielt ins Heute
Der Abend bemüht sich sichtbar um Anschluss ans Heute: Renate Martin und Andreas Donhauser haben eine streng-klare Bühne gebaut, in der sich die Unerbittlichkeit der Hauptfigur spiegelt und deren bestimmendes Element das Neonröhrengerüst ist, das die Umrisse des Doms zeigt. Die Glocken, deren Läuten beim Festgelage Jedermann quälen, haben ausgedient und stehen nutzlos am Bühnenrand. Ihr Klang wird – ebenso wie die „Jedermann“-Rufe“ – später nur im Kopf des Gepeinigten widerhallen.

Sturmingers Anspruch ist es, von einer hedonistischen, egoistischen Gesellschaft zu erzählen – und in manchen Momenten löst er diesen wunderbar ein. Bei ihm gehören etwa der Schuldknecht und dessen Familie zur Oberschicht; teuer und elegant sind sie gekleidet. Der soziale Absturz, so zeigt die Szene, kann jeden treffen: „Nun ist’s vorbei mit diesem Leben.“ Oft denkt der Regisseur seinen Ansatz allerdings nicht konsequent genug weiter. Die Festgesellschaft zum Beispiel hat die Ekstase-Kurve eines Nachmittags beim Mutter-Kind-Turnen – doch dort gibt es zumindest Reiswaffeln, während Jedermanns Gäste vor leeren Tellern sitzen, derweil kaum mehr als zwei Flaschen Champagner die Runde machen. In Fahrt kommt da keiner, denn (nicht nur) hier fehlt der Inszenierung der Mut zur mächtigen Geste, die dieses Spiel, das eben auch Spektakel ist, so unbedingt braucht, will es auf der übergroßen Bühne (ob vor dem Dom oder im Festspielhaus) bestehen.
Morettis Studie eines Geplagten
Die Schauspieler spiegeln dieses Problem: Tobias Moretti, Salzburgs neuer Jedermann, liefert die feinnervige Studie eines Geplagten. Er zeigt einen Mann, den Panikattacken quälen und dessen Unbarmherzigkeit vor der eigenen Person nicht haltmacht. Das ist eindrucksvoll, berührend – wenn man nahe genug am Geschehen sitzt.
Stefanie Reinsperger bringt als Buhlschaft eine neue Gefühlsfarbe in die Rolle: die Empathie und das Vertrauen der Liebenden. Bereits zu Beginn liegt sie in Jedermanns zum Altar erhobenen Bett, und wir bekommen eine leise Ahnung vom Alltag des Paares. Wie die beiden während des Festes miteinander agieren, welche Blicke sie tauschen, und wie Reinsperger schließlich die Tränen über die Wangen laufen, als sie dem Geliebten erklärt, dass sie ihn nicht auf seinem letzten Weg begleiten wird – all das ist sehenswertes Theater. Es ist aber auch: Kammerspiel. Sehr wahrscheinlich, dass sich diese eigentlich starken Momente in der Weite der Zuschauerreihen verlieren. Schade.

Bei seinem Drang ins Hier und Heute hat Sturminger die Rolle Gottes auf ein Minimum reduziert. Lediglich die Stimme des Herrn ist noch zu hören – schließlich war im Anfang nur das Wort. Völlig unnötig aber, dieses als Laufschrift einzublenden. Das gilt übrigens für alle Videoprojektionen. Ästhetisch auf dem Stand der Achtziger doppeln sie Hugo von Hofmannsthals sowieso schon plakativen Text ohne Erkenntnisgewinn: Machen die Vettern einen Besuch an Jedermanns Krankenbett (ein an sich schöner Einfall, schließlich würde die Diagnose „Todesangst“ diese schlichten Geister überfordern), flimmert im Hintergrund ein EKG. Nimmt der Mammon (Christoph Franken als güldener Lametta-Yeti) Jedermann die Luft zum Atmen, werden Goldbarren eingeblendet – während bei Jedermanns Läuterung Kerzen brennen. Hier arbeitet Sturminger mit jenem groben Pinsel, den er sonst meidet.
Herrlich unabhängig vom jeweiligen Regiekonzept ist Peter Lohmeyer auch heuer eine Schau. Als Tod – in der Vorgänger-Produktion noch ganz in Weiß und spinnengleich – gibt er nun den volltätowierten Finsterling, der tragen kann, was er will, weil er die Bühne sowieso spielerisch beherrscht. Gleiches gilt für Mavie Hörbiger, die als Werke Jedermann herzzerreißend schröchelnd den rechten Weg weist – und ihm an entscheidender Stelle souffliert: „Ich glaube.“ Erst dann kann dieser (selbst-)bewusst sterben. So zupackend, wie sich Moretti jetzt den Todeskuss holt, hätte Sturminger inszenieren dürfen.
Jubel, Standing Ovations fürs Ensemble. Verhaltener Applaus und ein Buh-Rufer für den Regisseur.