Theater auf Liesl Karlstadts Spuren

Schauspiel muss nicht immer im Theater stattfinden. Bei „Playing :: Karlstadt“ vom Residenztheater ist das Publikum auf den Spuren von Liesl Karlstadt im Münchner Klinikviertel unterwegs. Wir waren bei diesem besonderen Theater-Spaziergang dabei.
Manchmal ist Kunst eben doch ein Spaziergang: In „Playing :: Karlstadt“, dem jüngsten Projekt des Künstlertrios Raum+Zeit fürs Münchner Residenztheater, werden die Zuschauer einzeln losgeschickt auf einen Weg durchs Münchner Klinikviertel. Geleitet von der Stimme aus dem Kopfhörer, den jeder bekommt, gelangt man nacheinander zu vier Stationen, wo man jeweils mit einem Darsteller allein ist. Der spielt exklusiv für jeden Besucher eine Szene, die als eher assoziative denn erschöpfende Annäherung an die große Komikerin Liesl Karlstadt gedacht ist.
Schwarzgewandete, auf „unheimlich“ geschminkte Türhüterinnen, die einer Geschichte Franz Kafkas entsprungen scheinen, weisen an jeder Station dem Ankömmling mit stummen Gesten den Weg. Überhaupt fühlt man sich bei dieser „szenischen Installation“ eher wie in einem begehbaren Roman. Denn der kleine Abenteuertrip ist mehr als eine Geisterbahn für Fortgeschrittene. Seine große, leicht beunruhigende Faszination rührt von dem Eindruck her, man sei plötzlich in eine fremdartige, surreale Wirklichkeit geraten, die direkt hinter der vertrauten Alltagswelt liegt.
Das Bett in der Pension Mariandl ist zerwühlt
So geht es in der Pension Mariandl die alte Treppe hinauf in ein Einzelzimmer wie aus einer anderen Zeit: zerwühltes Bett, Schrank, ovaler Spiegel. Kein Mensch da, dann rauscht die Wasserspülung, und aus einer Nebentür huscht erschrocken Pauline Fusban als junge Liesl Karlstadt mit ondulierten Haaren. Keine Ahnung, was sie uns alles erzählt hat in der viel zu kurzen Ewigkeit, die man ihr in dem engen Kabuff nahe ist, während die Grenze zwischen der Kunstfigur und der realen Schauspielerin verschwimmt. Denn der Text – das ist den Theatermachern sicher klar – rauscht am Zuschauer eher vorüber, wird bloßes Element einer atmosphärischen Erfahrung und allenfalls halbbewusst aufgenommen, weil einen die unmittelbare Nähe speziell der Darstellerinnen doch hauptsächlich affektiv berührt.
Bibiana Beglau wartet als Valentin im Psychatrie-Hörsaal
Das schlechteste Los hat der einzige männliche Schauspieler gezogen. Die „Bühne“ des armen Alfred Kleinheinz ist nämlich das feucht-dunkle Kellergewölbe eines Gründerzeithauses. Erst meint man, das schwarze Bündel mit Händen und Füßen, das da auf Pappkartons am Boden liegt, sei eine Puppe. Aber dann regt es sich, setzt den Bowlerhut auf und erweist sich als Karl Valentin kurz vor seinem Ableben. Ständig vom asthmatischen Husten geschüttelt (eine beachtliche Leistung) breitet der Moribunde vor dem Besucher, der hier also die Position Karlstadts einnimmt, hochfliegende Zukunftspläne aus.
Nur einen Steinwurf entfernt die nächste Station: die psychiatrische Uniklinik in der Nußbaumstraße. Ein Jahr brachte Liesl Karlstadt hier zu, nachdem sie 1935 in die Isar gesprungen war, mit ihrer Katze, die dabei umkam, während die Künstlerin gerettet wurde. Der Theater-Spaziergänger jedenfalls findet sich alsbald im abgedunkelten Psychiatrie-Hörsaal wieder, vor steil ansteigenden Sitzreihen. Aus denen erhebt sich unversehens Bibiana Beglau, mit schwarzem Schlabberanzug und Hut ebenfalls als Valentin gekleidet. Und wer dieser bekannten Schauspielerin schon immer mal – schließlich sind wir hier im Reich der unbewussten Triebe – an die Gurgel gehen wollte, kommt gar nicht darum herum: Die Beglau packt die Hand des Zuschauers mit festem Griff und drückt sie an ihren Hals. Aber keine Angst, alles geht gut aus, und endlich führt der Weg durch allerhand versperrte Hochsicherheitstüren in den Garten der Klinik. In einem Container wartet da die letzte Liesl, Hanna Scheibe, auf dem Bett liegend. Dann erhebt sich die zartgliedrige Frau, zieht alte, bleischwere Bergstiefel an und entlässt uns mit den Worten, „du wirst erwartet“, in eine Realität, in die man sich, noch etwas belämmert, erst wieder einklinken muss.