Yannick Nézet-Séguin: Energie aus der Kraftwerkskette

Mit seinem Rotterdam Philharmonic Orchestra gastiert Yannick Nézet-Séguin in München - und empfiehlt sich für allerhöchste Aufgaben.
München - Der Abend klingt nach Flitterwochen, dabei wäre stille Trauer angebracht. Nicht mehr lange, und Yannick Nézet-Séguin wird das Rotterdam Philharmonic Orchestra verlassen. Das geht in Ordnung, Chefposten in Philadelphia, Montréal und seit kurzem an der New Yorker Met reichen vollkommen. Eine letzte Tournee lang stopseln sich die Rotterdamer nun also an die Steckdose ihres Chefs, aus der Starkstrom einer ganzen Kraftwerkskette schießt.
Und doch, dieses Konzert im Münchner Gasteig führt es vor, ist da nicht nur bloße, ungefilterte Gefühligkeit. Gerade Tschaikowskys Vierte, noch mehr Schlachtross als die letzten beiden Symphonien des Meisters, würde ja dazu einladen. Nézet-Séguin, vor 43 Jahren in Montréal geboren, nutzt das nicht zur Show. Energie in Reinform: ja. Aber so kanalisiert, so kalkuliert auch, dass Interpretation zum steten Geben und Nehmen wird. Nézet-Séguin hat den siebten Sinn für das, was sein Orchester anbietet (und anbieten kann), um dieses herauszukitzeln, auf- und anzunehmen, damit er alles mit seinem Willen verbindet. Der Mann ist hypergenau, hat sehr begründete Vorstellungen von Architektur und Klangrelief – und lässt den Musikern trotzdem genügend Luft.
Auf einen wie ihn hat der Klassikmarkt gewartet
Es gibt derzeit keinen Pultstar, bei dem sich hemdaufreißende Emotionalität, das Bewusstsein für die Binnenströmungen eines Werks mit einer so präzisen, schlüssigen Schlagtechnik und Körpersprache verknüpfen. Entäußerung ohne Äußerlichkeit ist das – und mindestens eine Ebene über dem, was eine Woche zuvor Andris Nelsons am selben Ort anbot. Der Lette, ebenfalls ein Herzblatt des Klassikmarktes, hatte sich mit dem Leipziger Gewandhausorchester derart in Brahms’ Vierte verknallt, dass er Details dauerbegeistert inszenierte und ihm darob das Stück in lauter wundersame Episoden zerbröselte.
Anders Nézet-Séguin, der zudem ein immenses Stilempfinden mitbringt. Für Haydns einleitende Symphonie „La Passione“, hier ein Furor in gedeckten Moll-Farben. Und auch für Rachmaninows viertes Klavierkonzert, das Yuja Wang mit kristalliner, schwindelerregender Attacke und röntgengenau definiertem Anschlag in den Saal klotzt. Rachmaninow braucht diesen kühlen Zugriff. Und Nézet-Séguin eine Partnerin wie diese, die bei solchem Virtuosenfutter nicht die Bekenntnismusikerin gibt.
Auf einen wie Yannick Nézet-Séguin hat jedenfalls der Klassikmarkt gerade noch gewartet. Der Terminkalender ist voll, Gastspiele in der Champions League sind wohlkalkuliert: Regelmäßig dirigiert er bei den Berliner Philharmonikern und beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wie im kommenden Juni. Der Mann hat Zeit. Irgendwann ist die Phase des Säens vorbei und eine zweite der Ernte wird anbrechen – in der Nézet-Séguin zum Beispiel die entscheidende Rolle im neuen Münchner Konzerthaus spielen könnte.