Wenn Lebensmittel Bauchschmerzen machen

München – Jeder fünfte Deutsche glaubt, daran zu leiden: Nahrungsmittelunverträglichkeiten verbreiten sich, so scheint es, wie eine Epidemie. Sind sie Mode-Diagnose oder eine neue Volkskrankheit? Ein Münchner Ernährungsexperte erklärt, was dahintersteckt.
Der eine trinkt den Kaffee seit kurzem mit Sojamilch, der andere isst nur noch Brot aus Buchweizen. Fett – das ist der Feind von gestern. Die neuen Gefahren tragen Namen, die noch vor kurzem in Sachen Gesundheit ein gutes Image hatten: Milch, Fruchtzucker, Vollkornbrot und der herzgesunde Rotwein – alles potenziell gefährlich. Immer mehr Menschen klagen darüber, bestimmte Nahrungsmittel nicht zu vertragen. Drückt der Magen, kneift der Bauch, glauben sie an eine Intoleranz als Ursache. Doch liegen sie damit immer richtig?
Dr. Gert Bischoff berät im Münchner Zentrum für Ernährungsmedizin und Prävention (ZEP) am Krankenhaus Barmherzige Brüder immer öfter Patienten, die überzeugt sind, dass ein Lebensmittel sie krank macht. „Allein im letzten halben Jahr waren es vielleicht so viele wie insgesamt in den zehn Jahren davor“, sagt er. Teils freut den Ernährungsmediziner das sogar. Lange sei unterschätzt worden, wie wichtig die Ernährung für die Gesundheit ist. „Endlich kommt auch die Forschung in Gang“, sagt er. Doch hat die neue Achtsamkeit auch Schattenseiten. Die eine ist: Angst vor dem Essen.
Eine Nahrungsmittelunverträglichkeit ist noch keine Allergie
„Drei Viertel der Patienten muss ich erst mal runterbringen“, sagt Bischoff. Sie haben etwa nach einem Atemtest (siehe unten) die Diagnose Laktose- oder Fruktoseintoleranz erhalten – und geraten in Panik, wenn man ihnen Spinat mit einem Klecks Sahne serviert. Oder Joghurt mit ein paar Beeren.
Doch eine Nahrungsmittelunverträglichkeit ist noch keine Allergie. „Viele verwechseln das“, sagt Bischoff. Bei einer Allergie richtet das Immunsystem seine Waffen gegen an sich harmlose Eindringlinge. In der Regel sind das Eiweiße, etwa die in Milch oder Weizen. Oft reichen winzige Mengen – und der Betroffene schwebt in Lebensgefahr: Die Luft bleibt weg, der Körper ist übersät von Quaddeln, der Kreislauf bricht zusammen. „Bekannt ist das etwa von Erdnüssen“, sagt Bischoff.
Besteht ein Verdacht auf eine Allergie, ist ein Test beim Experten nötig. Ist der Patient allergisch, hilft nur: Alles meiden, in dem der gefährliche Stoff steckt.
Fast ein Drittel der Deutschen leidet an Fruktoseintoleranz
Anders bei einer Unverträglichkeit, einer Intoleranz (siehe unten). Das Immunsystem ist hier nicht beteiligt, es kommt auch zu keiner Entzündung. Zudem ist die Toleranz eine Frage der Menge. Etwa bei Fruktose. „Wenn man sehr viel Fruchtzucker isst, leidet irgendwann jeder an einer Unverträglichkeit“, sagt Bischoff. Wer hat nicht schon mal ein Kilo Kirschen verputzt und das mit einem Blähbauch bezahlt?
Geringe Mengen vertragen aber in der Regel auch Menschen, bei denen der H2-Atemtest ein positives Ergebnis zeigt – und das sind fast ein Drittel der Deutschen.
Dass die Fruktoseintoleranz immer mehr zum Problem wird, ist teils hausgemacht. Die Lebensmittelindustrie serviert nicht nur süße Smoothies und Säfte, sondern erfand den Joghurt „mit der gesunden Süße aus Früchten“. Bald steckte der angeblich so gesunde Zucker in immer mehr Produkten. Dabei ist Fruchtzucker nicht gesünder als Kristallzucker. Im Gegenteil: „Vielen bekommt gerade die Mischung aus beidem“, sagt Bischoff. Der Trick: Bei der Verdauung nimmt der Kristallzucker seinen fruchtigen Kollegen beim Weg durch die Darmwand quasi huckepack.
Menschen mit Laktoseintoleranz können manche Milchprodukte trotzdem genießen
Wie viel man verträgt, probiert jeder am besten selbst aus. „Wie empfehlen ein Ernährungstagebuch“, sagt Bischoff. Das hilft zudem bei der Beratung durch Experten.
Auch bei einer Laktoseintoleranz, also einer Unverträglichkeit gegen Milch, wird ein Schuss Sahne noch nicht zum Feind. Schlecht vertragen wird nicht Milch an sich, sondern der Milchzucker. Bei Betroffenen steckt im Dünndarm nur wenig von dem Enzym Laktase, das den Milchzucker spaltet und ihn für den Körper verwertbar macht. Der Zucker wandert unverdaut in den Dickdarm. Dort machen sich Bakterien über ihn her. Dabei entstehen Gase. Die Folgen: Blähungen, Bauchschmerzen, Durchfall. Etwa 15 Prozent der Deutschen sind betroffen.
Doch auch wer laktoseintolerant ist, hat meist noch etwas Laktase im Darm – und kann daher ein wenig Milchzucker essen. „Viele haben nur Probleme, wenn sie wirklich ein Glas Milch trinken“, sagt Bischoff. Hinzu kommt: In manchen Milchprodukten ist kaum Milchzucker enthalten, etwa in reifem Käse. Auch Joghurt und Quark vertragen viele. Wem auch das Bauchschmerzen bereitet, für den bieten Supermärkte heute Regale voll Lebensmittel ohne Laktose an.
Ein Problem ist indes die Mode-Diagnose Histaminintoleranz
Interessant zu wissen: Laktoseintoleranz ist keine Zivilisationskrankheit. „In Asien oder Schwarzafrika ist fast jeder Erwachsene laktoseintolerant“, sagt Bischoff. Kinder haben auch dort in ihrem Darm genug Laktase, doch mit den Jahren nimmt das ab – auf bis zu fünf Prozent der ursprünglichen Menge. Dass dies vor einigen tausend Jahren auch in Europa so war, bestätigen neuere Studien. So nahmen Forscher das Erbgut des Gletschermannes Ötzi unter die Lupe. Das Ergebnis: Ötzi war laktoseintolerant.
Die Situation änderte sich, als die Menschen anfingen, Milchvieh zu halten. Wer Milch vertrug, litt seltener Hunger – und überlebte. Eine bestimmte Veränderung des Erbguts setzte sich durch und sorgt dafür, dass die meisten Europäer heute Müsli mit Milch frühstücken können.
Laktoseunverträglichkeit ist also uralt. Ein Problem, das gerade zur neuen Mode-Diagnose wird, ist indes die Histaminintoleranz. „Die Zahl der Anfragen ist extrem gestiegen“, sagt Bischoff. In einigen Nahrungsmitteln steckt recht viel von dem Stoff, etwa in Schokolade, Rotwein, aber auch in Trauben und Tomaten. Manche Menschen klagen über Kopfschmerzen, Hitzegefühl und Schwindel, wenn sie davon essen. Die Nase rinnt, der Bauch schmerzt.
Aktuelle wohl größte Essens-Angst kommt aus Amerika: Zöliakie
Die Beschwerden ähneln nicht zufällig einer Allergie. Denn der Stoff, der im Körper als Hormon wirkt, ist auch bei einer allergischen Reaktion beteiligt. Eine Diagnose der Intoleranz ist aber schwierig. Zwar kann man messen, wie viel Histamin im Blut ist. „Doch hat das kaum Aussagekraft“, sagt Bischoff. So hat der eine Patient hohe Werte und keine Beschwerden – und umgekehrt.
Doch ist Histamin nicht der einzige neu entdeckte Bösewicht: Die aktuelle wohl größte Essens-Angst kommt aus Amerika. Glutenfreie Produkte verkaufen sich dort schon längst besser als geschnitten Brot. Und Europa zieht nach. Der Ursprung der Glutenfurcht war dabei der Bestseller „Weizen-Wampe“ von William Davis. Laut dem Autor ist der Weizen – und das darin enthaltene Gluten – nicht nur schuld an Krankheiten wie Diabetes, Depressionen und Demenz. Davis verspricht: Weizen weg – Wampe weg. In der Tat liefern die Kohlenhydrate im Weizen dem Körper viel Energie. Wer zu viel davon isst, wird dick. Doch wird er auch krank?
Tatsächlich gibt es Menschen, denen eine glutenfreie Ernährung sogar das Leben retten kann. Wer an Zöliakie, auch Sprue genannt, leidet, dem schaden schon kleinste Mengen. Das Eiweiß Gluten, das in Weizen und vielen andren Getreiden steckt, führt bei ihnen zu einer chronischen Entzündung des Dünndarms. Auch Milchzucker vertragen die Betroffenen dann oft nicht mehr. „Man spricht von einer sekundären Laktoseintoleranz“, sagt Bischoff. Eine solche kann entstehen, wenn die Darmwand beschädigt ist, etwa durch eine Chemotherapie oder durch einen Infekt.
An Zöliakie leiden weniger als ein Prozent der Menschen
Bei Zöliakie ist die einzig wirksame Therapie: vollständiger Glutenverzicht. „Das ist nicht einfach“, sagt Bischoff. Denn das Eiweiß, das den Teig so schön klebrig macht, steckt nicht nur in Brot, Nudeln und Keksen, sondern auch in Bier, Fertig- und Lightprodukten.
An einer Zöliakie leidet weniger als ein Prozent der Menschen. Zu Gert Bischoff kommen aber immer mehr, die glauben, eine Gluten-Sensitivität zu haben. „Auch das gibt es“, sagt der Mediziner. Wie viele wirklich darunter leiden, ist umstritten. Auch ob es tatsächlich das Gluten ist, das den Bauch grummeln lässt. Viele Patienten macht aber wohl nur die neu aufgekeimte Glutenangst krank. Ist ein Patient überzeugt, das Eiweiß nicht zu vertragen, arbeitet Bischoff mit ihm einen glutenarmen Ernährungsplan aus. „Meist verbessert das die Beschwerden nicht“, sagt er.
Der neue Glaube an die Macht der Ernährung schürt aber nicht nur Ängste. Er ruft auch Scharlatane auf den Plan. Selbsternannte Ernährungsexperten nutzen die Angst vor Allergien, um bei ihren Patienten eine „Nahrungsmittelallergie vom Typ 3“ zu diagnostizieren, die sie auch „Nahrungsunverträglichkeit“ nennen. Dies geschieht mit Hilfe sogenannter IgG-Tests. Diese messen bestimmte Antikörper im Blut und werden fast immer fündig – bei Dutzenden von Nahrungsmitteln. Nicht selten kommen Patienten mit langen Listen von Lebensmitteln, die sie meiden sollen. „Würde man das befolgen – man wäre schnell mangelernährt“, sagt Bischoff.
Patienten werden abgezockt – und sind am Ende kränker als zuvor
Doch was bedeutet das Test-Ergebnis wirklich? „Dass der Körper mal mit dem Nahrungsmittel Kontakt hatte – sonst nichts“, sagt Bischoff. Denn eins darf man nicht verwechseln: IgE-Antikörper sind bei der Allergie-Diagnostik wichtig, aber nicht IgG – auch wenn das für den Laien ähnlich klingt. Die Patienten werden abgezockt – und sind am Ende kränker als zuvor.
Anders ist dies bei Kreuzallergien. „Die gibt es durchaus“, sagt Bischoff – und sie ähneln oft einer Unverträglichkeit. Vor allem wenn draußen die Birkenpollen fliegen, tränen manchen Menschen nicht nur die Augen – sie bekommen auch Bauchschmerzen, wenn sie Sellerie oder Karotten essen. Blühen die Gräser, juckt es plötzlich beim Genuss einer Tomate. Der Hintergrund: Die Betroffenen haben eine Allergie auf Birkenpollen, genauer auf darin enthaltene Eiweiße. Doch stecken in einigen Lebensmitteln ähnliche. Die Folge: Der Körper reagiert auch auf diese. Es juckt im Mund, der Hals schwillt, die Verdauung spielt verrückt. Doch sind diese Kreuzallergien in der Regel viel milder als echte Allergien gegen Nahrungsmittel.
Auch hier rät Bischoff den Patienten, selbst zu testen, welches Lebensmittel sie vertragen – und wann. Denn was einem bekommt, das sagt einem am besten der eigene Bauch.
Die vier häufigsten Unverträglichkeiten
- Laktoseintoleranz: Betroffene vertragen Milchzucker schlecht, der in Milch und vielen Milchprodukten steckt, auch in solchen von Schaf und Ziege. Typisch: Blähungen und Durchfall.
- Fruktoseintoleranz: Wer daran leidet, kann Fruchtzucker nicht gut aufnehmen. Dieser ist in Früchten, Honig sowie vielen gesüßten Produkten wie Kuchenund Joghurt enthalten. Typisch: Verdauungsprobleme wie Durchfall.
- Histaminintoleranz: Patienten reagieren empfindlich auf Lebensmittel, die reich an Histamin sind – etwa reifer Käse, Schokolade und Wein. Oft tränen Augen und Nase, auch Kopfschmerzen und Verdauungsprobleme.
- Gluten-Sensitivität:
Was man noch wissen muss
Sind Verdauungsprobleme immer harmlos?
Wer oft Bauchschmerzen oder Verdauungsprobleme hat, sollte einen Arzt aufsuchen. Bei welchen Bauchschmerz-Symptomen man zum Arzt sollte, verrät 24Vita.de*. Denn hinter den meist harmlosen Beschwerden können auch schwere Erkrankungen stecken. Durch eine Spiegelung von Magen und Darm kann der Spezialist eine Krebserkrankung ausschließen, oft auch chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis Ulzerosa. Hinter Magenbeschwerden kann zudem eine Infektion mit dem Bakterium Helicobacter pylori stecken.
Wie erkennt man Zöliakie?
Die Beschwerden bei Zöliakie sind vielfältig und reichen von Verdauungsproblemen, Gewichtsverlust und Mangelerscheinungen bis hin zu Kopfschmerzen, Depressionen und häufigen Infekten. Besteht der Verdacht auf Zöliakie, sucht man im Blut nach bestimmten Antikörpern. Zudem muss mit einem Endoskop eine Gewebeprobe (Biopsie) der Dünndarmwand entnommen und untersucht werden.
Was ist ein Reizdarm?
Spielt die Verdauung verrückt und findet sich auch nach umfangreichen Untersuchungen keine Ursache, stellen viele Ärzte die Diagnose „Reiz-Darm-Syndrom“. Das heißt: Der Darm der Patienten reagiert empfindlich auf psychische Belastungen, aber oft auch auf bestimmte Nahrungsmittel – es kommt zu Verdauungsproblemen. Experten empfehlen, ein Ernährungstagebuch zu führen. So können Betroffene am besten herausfinden, was ihrem Bauch gut tut.
Wie stellt man die Diagnose bei einer Intoleranz?
Der Patient trinkt beim Arzt nüchtern eine Testlösung. Danach muss er immer wieder in ein Messgerät pusten. Das hält fest, wie viel Wasserstoff (H2) in seiner Atemluft steckt. Der Hintergrund: Wenn der Milch- oder Fruchtzucker nicht richtig verstoffwechselt wird, produzieren Bakterien im Darm unter anderem Wasserstoff. Der gelangt ins Blut und wird schließlich ausgeatmet. Der Wasserstoff-Gehalt kann daher auf eine Intoleranz hinweisen. sog
Von Sonja Gibis (*24Vita.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA)