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Wer Flügel hat, braucht keine Beine

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Von: Susanne Stockmann

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Frau mit Beinprothese  steht die Arme hochgereckt auf einem Berggipfel
Bei einem Unfall verlor Christina Wechsel ein Bein, mit ihrer Prothese geht sie auf Berge, klettern, tauchen und Skifahren © Andrea Mühleck

Die Münchner Heilpraktikerin Christina Wechsel (39) hat vor 15 Jahren drei Schicksalsschläge in einem Jahr erlebt: Erst starb ihre Mutter und bei einer Australienreise verlor die Münchnerin im Outback bei einem Autounfall ein Bein und ihren besten Freund. Sie hat sich ihr Leben nicht nur zurückerobert, sondern ist daran gewachsen!

Wie haben Sie dem Schicksal vergeben?

Christina Wechsel: Ich habe Mr. Schicksal viele Vorwürfe gemacht. Als meine Mutter krank wurde, hatte ich ja meine geplante Australienreise abgesagt. Ich dachte daher, das Schicksal sei mir was schuldig, und war der egoistischen Meinung, ein bisschen Glück verdient zu haben. Mir ist später klar geworden, dass mir das Schicksal gar nichts schuldet. Meine Mutter hat bis zum Schluss ihres Lebens um eine zweite Chance gekämpft. Bestimmt hätte auch mein bester Kumpel Ronny, der bei dem Autounfall auf dem Weg zum Uluru starb, gern eine zweite Chance gehabt. Mir hat Mr. Schicksal diese zweite Chance gewährt! Diese will ich unbedingt nutzen.

Wenn Sie von Ihrem Leben sprechen, reden Sie von „Mr. Schicksal“, ihrem „neuen kleinen Bein“, dem „Schmerztiger“ des Phantomschmerzes, der sie plagt, oder den Hummeln, die sie vorwärts treiben. Warum?

Als der Chefarzt in Adelaide das erste Mal vom „Stumpf“ sprach, sagte mein Bruder sofort: „,Nein kein Stumpf, wir nennen es das neue kleine Bein.“ Was ein viel liebevollerer Name ist, denn schließlich handelt sich um mein Bein, auch wenn es jetzt kürzer ist. Die Hummeln drücken meine Ungeduld ganz gut aus. In unserer Familie hat jeder einen Spitznamen.

Wie werden Sie genannt?

Die Mami nannte mich immer Müsli , schwiizerdütsch für Mäuschen. Das ist heute geblieben. Obwohl ich ganz das Gegenteil von einem Mäuschen bin.

Wofür es sich zu kämpfen lohnt

Porträt der Heilpraktikerin Christina Wechsel
Hilft nun anderen: Die Münchner Heilpraktikerin Christina Wechsel © Andrea Mühleck

Sie sind eine Kämpferin. Was motiviert Sie, alle Schmerzen auszuhalten und immer neue Ziele anzusteuern?

Wechsel: Am Anfang habe ich aus Liebe zu meinem Vater und meinen Bruder gekämpft. Ich wollte es ihnen nicht antun, auch noch zu sterben. Beim Tod der Mami haben wir erlebt, wie schnell es zu Ende sein kann, und wie wichtig der Zusammenhalt in der Familie ist. Mein Vater und mein Bruder sind sofort zu mir geflogen. Mein Bruder war es auch, der mir die schlimme Nachricht übermittelt hat, dass mein Bein amputiert werden muss, weil ich sonst an einer Blutvergiftung gestorben wäre.

Sie reisen heute durch die ganze Welt, sind eine begeisterte Kletterin und haben eine eigene Naturheilpraxis. Es scheint, als hätten Sie das Schicksal bezwungen und nicht umgekehrt!

In extremen Situationen lernt man sich wirklich kennen. Ich weiß nicht, wo ich heute wäre, wenn ich alles nicht erlebt hätte. Was jetzt nicht heißen soll, als Amputierte bekommt man eine Prothese und dann ist alles gut. Es ist ein ständiger auch innerer Prozess. Die schwerste und schönste Reise ist die zu einem selbst.  

Wie meinen Sie das?

Wechsel: Früher habe ich mich auch über mein Aussehen, meinen Körper definiert. Schon auf der Intensivstation musste ich mich davon verabschieden. Vier Krankenschwestern waren nötig, um mich auf die Seite zu drehen. Mir fehlte die Kraft. Nach 20 Operationen und sechs Monaten Klinik war ich abgemagert. Die Prothese habe ich zunächst versteckt. Dann habe ich mich gefragt, welches meine Werte sind, was meine innere Essenz ist, die mir niemand amputieren kann. Seitdem zeige ich meine verletzliche Seite. Es kostet zu viel Energie zu verstecken, was man nicht ist. Hundertprozentig man selbst sein, kostet dagegen null Energie!

Die Mutmacherin

Als bei ihrem allerersten Vortrag bei einem Frauennetzwerk die Zuhörerinnen erst weinten, dann lachten und später applaudierten, wurde Christina Wechsel klar, dass ihr Schicksal Menschen berühren und Mut machen kann. Im Alter von 25 Jahren erlebte sie in den Jahren 2006 und 2007 drei schwere Schicksalsschläge. Ihr Welt bracht zusammen, doch sie kämpfte sich zurück. Heute zeigt sie den Menschen, dass es „weniger darauf kommt, was einem im Leben zustößt, sondern darauf, wie man reagiert“.  
Christina Wechsel arbeitet als Heilpraktikerin in München, sie hat sich auf Frauenheilkunde und auch auf die Behandlung von Phantomschmerzen spezialisiert (Homepage und Instagram)

Buchtipp: Christina Wechsel, Wer Flügel hat, braucht keine Beine, HarperCollins, 16 Euro

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie mit dieser neuen Energie zum ersten Mal wieder mit Freunden aufs Oktoberfest gingen und für den Mut auch belohnt wurden!

Wechsel: Diese Geschichte erzähle ich so gern. Ich hatte mir wieder ein Dirndl gekauft, war mit der Prothese noch unsicher. Doch an diesem Tag lernte ich meinen heutigen Ehemann kennen. Und Ecki zeigt mir seitdem jeden Tag, dass es völlig wurscht ist, wie viele Beine ich habe, und dass ich alle meine Träume erreichen kann.

Sie haben das Klettern entdeckt, gehen Paragliden und Tauchen, haben das Skifahren auf einem Bein gelernt. Hätten Sie das für möglich gehalten?

 Zunächst möchte ich noch sagen, dass ich versuche meinen Weg zu gehen. Ich war schon immer sportverrückt. Das ist für mich das Richtige, wird es aber nicht für alle sein. Als mir der Chefarzt in Adelaide sagte, in einem Jahr würden wir zusammen tanzen können, das habe ich ihm nicht geglaubt. Darum engagiere ich beim Pik-Projekt, wo ich Menschen in Kliniken besuche und begleite, die eine Amputation brauchen. So kann ich Mut machen und anderen helfen. Und dieser ganze Schmarrn, der mir passiert ist, bekommt einen Sinn.

Sie haben viele Jahre mit schrecklichen Phantomschmerzen gelebt. Was hat geholfen?

Letztlich war es die Naturheilkunde und das war auch der Auslöser, warum ich eine Ausbildung zur Heilpraktikerin gemacht und meine eigene Praxis eröffnet habe. Auch damit kann ich wieder Menschen mit meiner Erfahrung helfen und begleiten. Denn ich habe selbst erfahren, dass wir in uns eine innere Kraft zur Heilung besitzen.

Der Uluru im roten Herzen Australiens war das Ziel Ihrer Australienreisen. Waren Sie mittlerweile da?

Als ich fünf Jahre nach dem Unfall mit meinem Vater zurück nach Adelaide geflogen bin, auch um die Ärzte und Pfleger in der Klinik zu besuchen, war alles noch zu frisch. Vergangenes Jahr hatte ich jedoch eine Reise gebucht und alles samt Candlelight-Dinner am Uluru unter den Sternen schon perfekt geplant: Der Abflug war für den 27. März 2020 geplant. Dann kam Corona... Zum dritten Mal hat es nicht geklappt. Doch ich habe dieses Vertrauen, dass alles was im Leben passiert, einen tieferen Grund hat. Der Tod meiner Mutter, der Autounfall - irgendwann werde ich darauf eine Antwort finden. Dann kann ich sagen: So war es gedacht und ich habe das Beste daraus gemacht.

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