„Ich gehe nicht mehr raus, man könnte doch was riechen...“

Syke - Rund 40 Anfragen – per Telefon und E-Mail, aber auch per Brief, konnten die Experten in der Gesundheitssprechstunde der Verlagsgruppe Kreiszeitung beantworten.
Die meisten Leser stellten sehr gezielte Fragen zum Tabu-Thema Inkontinenz. Geduldig und ausführlich standen Prof. Dr. Dr. Rolf Muschter, Chefarzt der Urologie am Diakonischen Krankenhaus Rotenburg, sowie der niedergelassene Urologe Dr. Jan Peczat aus Nienburg und der Leiter der Selbsthilfegruppe „Inkontinenz“, Karl-Heinz Drogt aus Syke, Rede und Antwort.
Frau H. (86), Syke, fragt nach einer Selbsthilfegruppe, bedauert, dass es keine in Syke gibt, nur in Bremen, ermuntert Herrn Drogt, eine weitere zu gründen.
K.-H. Drogt: Ich habe mich sehr über das Interesse gefreut und ihr gesagt, dass wir in unserer Bremer Gruppe darüber nachdenken. Denn das müsste schon möglich sein – einen geeigneten Tag zu finden und auch Räume zu bekommen.
Herr B. (69), Verden, berichtet zunächst von einer Prostatavergrößerung und erzählt dann, er leide unter einer Borreliose, Seitdem verliert er beim Einschlafen Urin. Die Blase entleert sich komplett. Wenn er morgens aufwacht, ist das Bett klitschnass. Er behilft sich mit Windeln und fragt nach einer Therapie.
Dr. Peczat: Ich habe geraten, sowohl einen Neurologen als auch einen Urologen in Kombination aufzusuchen, und dies möglichst an einem Zentrum – entweder in Bremen oder im Hamburgische Universitätsklinikum, um in der Zusammenarbeit von Urologen und Neurologen eine Lösung zu finden. Der Erfolg ist aber eher ungewiss.
Frau B., Achim, fragt im Auftrag ihres Mannes (67), der an Inkontinenz erkrankt ist, nach einer Selbsthilfegruppe. K.-H. Drogt: Ich finde das einfach schön, dass eine Frau auch für ihren Mann anruft und fragt, wann ihr Mann mal nach Bremen kommen und an dieser Selbsthilfegruppe teilnehmen könne. Das geht an jedem dritten Mittwoch im Monat, dann trifft sich unsere Gruppe ab 15 Uhr in den Räumen der „Netzwerk Selbsthilfe“ an der Bremer Faulenstraße 31.
Frau H. (70), Bremen, leidet unter einer Stressinkontinenz. Sie verliert also bei Belastung den Urin. Sie nimmt Spasmex 30 ein. Dieses helfe etwas, aber die Patientin ist noch nicht ganz zufrieden. Dr. Peczat: Ich riet ihr, zum einen den Urologen aufzusuchen und zum anderen gegen Abend auch noch eine zusätzliche Tablette zu nehmen. Denn auch hier gilt: Das kann helfen, den Erfolg zu festigen.
Herr D. (79), Weyhe, gibt an, dass er einen Schlaganfall erlitten habe. Seitdem leide er unter einer Stuhlinkontinenz und hab keinerlei Kontrolle. Prof. Muschter: Ich habe ihm gesagt, dass dieses ein sehr komplexes Problem ist, das zunächst einer neurologischen Abklärung bedarf; denn wenn die Muskulatur nachhaltig gestört ist, muss man das zunächst abklären. Danach ist möglicherweise ein operativer Eingriff hilfreich.
Frau K. (67), Kirchlinteln, fragt an wegen ihres 78-jährigen Ehemannes, der an einer Demenz leidet und damit inkontinent, vor allem stuhlinkontinent, ist. Da er auch wegen der Demenz schlecht isst und trinkt, war ihr der Rat gegeben worden, weil er oft tagelang keinen Stuhlgang hat, Abführmittel zu verwenden. Und nun empfindet sie es als Wahl zwischen Teufel und Beelzebub: Ihr Mann ist entweder völlig stuhlinkontinent oder hat tageweise keinen Stuhlgang. Er ist mit Windeln versorgt, doch wegen der Demenz ist er leider nicht in der Lage, sich in irgendeiner Form zu melden. Er löst oft die Windeln und, wie das demente Leute tun, trägt sie überall hin.
Prof. Muschter: Hier habe ich ihr geraten, in einer Fachklinik für Geriatrie vorzusprechen und sich zu erkundigen, was es für Möglichkeiten der Behandlung der Altersdemenz gibt. Dieses Inkontinenzproblem ist zerebral (also durch Hirnleistungsschwächen) bedingt, und das ist nicht mit Maßnahmen im Beckenbereich zu behandeln.
Herr L. (69), Stuhr, berichtet, er habe eine radikale Prostataoperation wegen eines Prostatakarzinoms vor zweieinhalb Jahren über sich ergehen lassen müssen. Eine Bestrahlung hat sich angeschlossen. Seitdem ist er inkontinent. Vor allem nachts. Tagsüber ist er weitgehend kontinent. Er braucht nachts ein bis zwei Vorlagen. Er lässt trotzdem auch drei- bis viermal nachts Wasser – jeweils mit 200-250 ml. Das zeigt, dass die Blase eigentlich offenbar voll wird.
Prof. Muschter: Ich habe ihm gesagt, dass dieses Problem relativ ungewöhnlich ist. Die meisten Patienten sind nach einer radikalen Prostataoperation, die dann eine Inkontinenz haben, eher tagsüber bei körperlicher Aktivität inkontinent und nachts trocken, so dass hier zunächst keine wirkliche Beurteilung möglich ist. Deshalb wichtig: Eingehende Untersuchung durch einen Urologen, damit man erkennen kann, welches Problem dem zu Grunde liegt. Eine Schließmuskelschwäche ist eher unwahrscheinlich, weil der Schließmuskel ja offensichtlich tagsüber funktioniert. Sollte es aber tatsächlich sein, dass er relativ zu schwach ist und die Urinausscheidung vorwiegend nachts stattfindet, das gibt es manchmal, dann sollte er ein Zentrum aufsuchen, in dem man ein Schließmuskelunterstützungssystem oder einen künstlichen Schließmuskel einsetzen kann. Ein solcher operativer Eingriff wird ihm sicherlich eine Verbesserung verschaffen oder auch das Problem völlig beseitigen.
Herr S. (60), Achim, ist eigentlich kein wirklicher Inkontinenzpatient, sondern leidet nach der Beschreibung seiner Probleme und der bisher durchgeführten Behandlung an einer Prostatavergrößerung mit einer Abflussstörung der Blase, die zu einer Überdehnung der Blase geführt hat.
Prof. Muschter: Ich habe hier die Prostatavergrößerung als Ursache beschrieben, die Folgen dieser Prostatavergrößerung auf die Blase be-nannt und die ursächliche Verkettung erläutert. Dann habe ich ihm die Behandlungsmöglichkeiten bei Prostatavergrößerung mit den verschiedenen Möglichkeiten der medikamentösen und operativen Therapie aufgezeigt. Er hatte bereits Vorinformationen zur Operation, war von seinem Hausarzt vor dem Urologen, der viel zu früh schneiden wolle, gewarnt worden, und hier ist sicher eine unheilige Allianz zwischen den verschiedenen Partnern in diesem Bereich zu sehen: Auf der einen Seite der Patient, der natürlich lieber ein Medikament nimmt, als sich operieren zu lassen auf der anderen Seite aber ein Arzt, der von der eigentlich notwendigen Operation abrät, und der Facharzt dazwischen, der eigentlich die notwendige Operation durchführen möchte, aber sich des Vorurteils erwehren muss, er würde dieses aus niederem Interesse tun wollen. Hier mündet das Ganze typischerweise in eine schlechte Versorgung des Patienten. Ein echte Problem. Denn Herr S. braucht tatsächlich eine Operation.
Herr E. (82), Bruchhausen-Vilsen, berichtet, dass der Urologe ihm für seine Inkontinenz Yentreve mitgegeben hat, ein Ärztemuster. Damit ist er so glücklich, dass er dieses Präparat nicht mehr missen möchte. Es darf aber nicht verschrieben werden, da es nur für Frauen zugelassen ist.
Dr. Peczat: Im Prinzip ist das so. Ich riet ihm aber, über den Urologen eine Anfrage bei der Kassenärzlichen Vereinigung und beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen zu starten, damit dieses Medikament auch ihm verschrieben werden kann. Denn Herr E. muss immerhin mit knapp 500 Euro monatlich auskommen, er kann es sich nicht leisten, Yentreve privat zu kaufen. Er kann nicht mal so einfach 170 Euro für Medikamente bezahlen.
Frau M. (68), Brinkum, berichtete über ihre Stuhlinkontinenz, die nach einer Strahlentherapie aufgetreten sei. Sie gab an, dass sie nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, im Wesentlichen aus Angst, dass man etwas riechen oder hören könnte, dass sie alle ihre Freunde verloren hat. Ein Gastroenterologe, bei dem sie in Behandlung ist, hat eine Schließmuskelschwäche des Darmschließmuskels festgestellt. Ihre Schilderung, auch bei mehrfacher Nachfrage, hört sich aber mehr nach einer Reizdarmsymptomatik an, also einer Symptomatik, die eher die Speicherung des Stuhls im Darm verbietet, die alleinige Schließmuskelschwäche dürfte hier nicht das Problem erklären.
Prof. Muschter: Ich habe ihr geraten, dieses nochmals und eventuell von einem Dritten oder Vierten abklären zu lassen. Die verschiedenen Möglichkeiten in der Behandlung der Schließmuskelschwäche und der Reizdarmsymptomatik habe ich ihr erläutert. Ferner habe ich ihr gesagt, dass als „ultima ratio“ (als letzte Möglichkeit) auch in Frage kommt, sich einen künstlichen Ausgang machen zu lassen – mit Ableitung von Stuhl und Winden in einen Beutel.