DDR-Zeitzeuge in Bad Tölz: „Wer Vergangenheit kennt, kann Zukunft lenken“

Der DDR-Zeitzeuge Horst Böttge spricht in der Tölzer FOS/BOS über die Stasi und die Verhaftung seines Bruders zu Zeiten des Unrechtsstaats.
Bad Tölz – Diese ungeteilte Aufmerksamkeit würde sich bestimmt manch ein Lehrer von 150 Schülern wünschen, wie sie kürzlich Horst Böttge bei seiner Lesung in der Aula der FOS/BOS Bad Tölz zuteilgeworden ist. Kein Geratsche, kein Handygetippe. Die Elftklässler hörten gespannt zu, als Böttge von der Geschichte seines Bruders Richard berichtete und vorlas.
Dieser wurde 1950 Opfer des DDR-Regimes. Mit 16 Jahren wurde der gebürtige Lausitzer verhaftet. Der Grund: ein harmloser Streich. Richard Böttge verzierte mit abgebrannten Streichhölzern auf einem Leninbild den Bart des kommunistischen Revolutionärs. Ein Streich mit fatalem Nachspiel des Unrechtsstaats: Ein sowjetisches Militärgericht verurteilte Richard Böttge zu 10 Jahren Arbeitslager.
Schüler hören aufmerksam zu
Zu Beginn seiner Lesung sagte der Zeitzeuge, dass der politische Bildungsauftrag eine große Brisanz – vor allem mit Blick auf die Kriegslage in Europa – habe. „Es ist notwendig, die Ursachen der aktuellen Entwicklung gegen unsere Demokratie zu erkennen, um sich für unsere paradiesischen Zustände weiter stark zu machen“, betonte Böttge. „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft lenken.“ Mit paradiesischen Zuständen meinte Böttge das demokratische Regierungssystem der BRD. „Für unsere Eltern und Großeltern war das keine Selbstverständlichkeit.“ In der DDR waren demokratische Rechte wie die Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Reisefreiheit Fremdworte, sagte er, bevor er die ersten Seiten seines 2015 erschienenen Buches „Drangsaliert und dekoriert“ las.
Dabei machte Horst Böttge immer wieder Pausen und erklärte die Zusammenhänge, um den Schülern eine Einordnung der Geschichte seines Bruders – der übrigens kurz vor der Herausgabe des Buches verstorbenen ist – zu erleichtern. Dabei schildert der Geretsrieder auf ergreifende Weise, die unmenschlichen Zustände, in denen Richard Böttge von Gefängnis zu Gefängnis gebracht wurde.
Thema hat heute äußerste Brisanz
Besonders ergriffen zeigte sich sein Publikum von den Sorgen und Ängsten, die seine Familie in diesen Jahren durchstehen musste. Immerhin erfuhren sie von der Verhaftung ihres Sohnes und Bruders erst drei Monate nach dessen Verschwinden. Die Ungewissheit sei eine der schlimmsten Belastungen – auch für seinen Bruder – gewesen, berichtet der Zeitzeuge. Denn der damals 16-Jährige wusste nicht, wo er jeweils mit den Gefangenentransporten hingebracht werden würde, er sah kein Tageslicht, musste hungern und wurde nicht über seine gesundheitliche Verfassung aufgeklärt. Insgesamt 16 Gnadengesuche seiner Familie wurden abgelehnt, bis 1953 Richard Böttge amnestiert wurde.
Auch in der kurzen Pause war zu merken, wie sehr manche Schüler von den Berichten des Zeitzeugen ergriffen und gefesselt waren. So kamen manche zwischen den beiden Lesungsblöcken zu dem Referenten und stellten ihm Fragen. „Ich finde es sehr spannend, etwas über die deutsche Geschichte von einem Zeitzeugen zu erfahren“, sagt der FOS-Schüler Miika Otten in der Pause gegenüber unserer Zeitung. „Man lernt und hört ja recht viel rund um das Thema DDR – zum Beispiel, dass es keine Südfrüchte gab und vieles abgehört wurde oder es so lange gedauert hat, ein Auto zu bestellen. Aber wie brutal es da abgegangen ist, das ist erschreckend“, meint er. Da pflichtet ihm sein Klassenkamerad Vasilios Lakkis bei. „Ich finde es total authentisch und wertvoll, dass wir bei diesem Vortrag etwas so Reales erfahren können.“
Bruder zu DDR-Zeiten wegen einem Streich verhaftet und verurteilt
Nach der Pause ging Böttge auf die Zeit nach der Freilassung seines Bruders ein. Vor allem aber auch auf die Aufarbeitung der Stasiunterlagen. „Erst als mein Bruder schon in Pension war, hat er bei der Einsicht seiner Stasiunterlagen erfahren, wie viel die Behörde noch versucht hat, um ihn erneut hinter Gitter zu bekommen“, sagt er und ergänzt „Wie ein Krimi auf 400 Seiten war das.“
Der Referent nahm sich am Ende noch geduldig Zeit, und ging auf die vielen Fragen der Jugendlichen ein. Nach über zwei Stunden beendete Horst Böttge seine 70. Lesung mit dem Appell: „Wir sind alle in der Pflicht, die Errungenschaften unserer Demokratie zu pflegen und zu hüten.“
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