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„Blutnacht auf dem Schreckenstein": KZ-Theaterstück erlebt umjubelte Wiedergeburt

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Dachau - Lachtheater, Widerstandsstück, Hitler-Persiflage. „Die Blutnacht auf dem Schreckenstein“ ist ein vielschichtiges Werk. Geschrieben von Häftlingen im KZ Dachau , aufgeführt vor der SS. Fast 70 Jahre später wird es in Dachau wieder gespielt.

Anneliese steht breit da, wie eine Walküre: füllig, wuchtig, stark. „Du bist ein Hund. Belle!“, schreit sie den jungen Mann an. Dieser kniet am Boden, auf Händen und Füßen, die streng gekämmten Haare fallen ihm schwarz glänzend ins verschwitzte Gesicht, der schicke Anzug ist verstaubt, die Reiterstiefel sind verdreckt. „Wiff“, piepst Heinrich von Lämmermann. Doch Anneliese brüllt zurück: „Nicht wie ein Dackel - wie ein Deutscherrrr Schäferhund!“

Es ist zum Brüllen. Der schnieke junge Edelmann und die wuchtige Angebetete, seine verzweifelten Versuche, ihr zu gefallen, ihre erniedrigende Abfuhr - die Situation ist urkomisch. Eigentlich. Trotzdem traut sich zunächst keiner der Zuschauer bei der Premiere in der Dachauer Papierfabrik, den Mund auch nur zu einem Lächeln zu verziehen. Denn Anneliese und Heinrich sind Figuren eines Stücks, dessen Entstehung mehr als bizarr ist.

Rudolf Kalmar, ein Häftling des Konzentrationslagers Dachau, hat das „komisch-schaurige Ritterstück“ geschrieben - im KZ. Eine Hitler-Persiflage. Und Häftlinge haben das Stück unter dem Titel „Die Blutnacht auf dem Schreckenstein oder Ritter Adolars Brautfahrt und ihre grausiges Ende oder Die wahre Liebe ist das nicht“ aufgeführt. Am 13. Juni 1943, auf dem „Kleinen Appellplatz“, vor anderen Häftlingen - und vor der SS.

Das Erstaunliche daran: Die SS sah die Persiflage darin nicht, die Soldaten schmunzelten nur über das offensichtliche Lachtheater. Die Häftlinge schmunzelten nicht, sie bogen sich vor Lachen. Denn sie erkannten die überzeichneten Gestalten auf der Bühne wieder - allen voran Adolf Hitler in Ritter Adolar: herrisch, erbarmungslos, egoistisch, kalt. Und irgendwie: lächerlich.

Genau das ist es, was die Zuschauer der Premiere in einer verlassenen Lagerhalle der MD-Papierfabrik stutzen lässt. Ist dieser überzeichnete Hitler-Verschnitt zum Lachen? Oder: Darf man darüber lachen? Soll man sogar lachen? Eine verzwickte Situation.

„Als ich das Manuskript las, dachte ich, dass es schon viel Risiko bedeutet, dieses Stück in Dachau aufzuführen“, sagt Dominik Härtl, der den Lämmermann spielt. „Dann aber dachte ich an die KZ-Häftlinge und das Risiko, das sie gehabt haben. Und mein erster Gedanke kam mir abstrus vor.“

Karen Breece achtet genau darauf, dass der Zuschauer dieses Dilemma den ganzen Abend über nicht vergisst. 69 Jahre lang lag das Manuskript in der Schublade. Es war der brennende Wunsch der Dachauer Regisseurin, das Stück wieder auf die Bühne zu bringen - und zwar in Dachau, mit Dachauern. Die Schauspieler stellen sich mit Namen vor - und erzählen kurz, was sie persönlich mit Dachau und den Gräueltaten des Dritten Reichs verbindet. Dazu werden zwischen den einzelnen Szenen des Theaterstücks Texte ehemaliger Häftlinge vorgelesen, in denen der Alltag im KZ beschrieben wird. SS-Männer, die einen entkräfteten Häftling so lange drangsalieren und treten, bis er stirbt. Ein Offizier, der einen Neuzugang zum Flüchten überredet, ihn so lange bedrängt, bis der junge Mann langsam losgeht - und vom Wächter erschossen wird. Wie der Hunger übermächtig wird. „Der Körper besteht nur noch aus Haut und Knochen. Im Kopf fühlt man sich ganz leicht. Dann hat man schon viel hinter sich, dann steht man kurz vor dem Tod.“

Die Kulissen unterstreichen die Atmosphäre. Die Zuschauer sitzen sich in der verlassenen Lagerhalle auf zwei Tribünen gegenüber, die Bühne zieht sich als Kiesweg in der Mitte hindurch. Neonlampen hängen von der Wellblechdecke. Neben den Sitzreihen steht ein Gestänge, das aussieht wie ein Folterkabinett - doch es sind Instrumente, mit denen der Cellist Mathis Mayr die Geräusche auf Schreckenstein erzeugt: Kettenrasseln, Glockenschlagen, Donnergrollen. Das jedoch wird bald von einem echten Gewitter draußen übertönt, das die Zweige der Bäume gegen das Wellblech schlagen lässt und mit den Blitzen die Halle erhellt.

Dazwischen die grotesken Szenen des Stücks. Die Schauspieler selbst übertreffen sich mit ihren überzogenen Darstellungen der bizarren Figuren: Adolar, Graf von Schreckenstein (René Rastelli), der mit irrem Blick in seinen eiskalten blauen Augen den Grund seiner Bosheit verrät: Fatima ist schuld, die Frau mit den sieben Schleiern, die ihm damals, im Orient, verschmäht und damit „den Glauben an das Weib“ genommen hat. Anneliese (Ingrid Zellner), das willige Weib, die den schönen, artigen und überängstlichen Edelmann Heinrich von Lämmermann verschmäht, nur um dann die vollen Rundungen ihres Hinterns in den ausgebreiteten Armen des lüsternen Adolars zu reiben. Und allen voran Leopold (Markus Kurbanoglu), der gute Hausmeister des Grafen, der gelernt hat, die Grausamkeiten seines Herren geduldig zu ertragen - und nebenbei trotzdem noch Zeit findet, über das Leben und die Liebe zu philosophieren.

Als Rosalia (Verena Wildmoser), Adolars verstorbene Frau, mit polnischem Akzent im grauen Militärskostüm als militantes Schlossgespenst auftaucht und den untreuen Grafen mit einem Fluch belegt, ist es nicht mehr auszuhalten: Die Zuschauer lachen befreit auf. Und schließlich befreit Anneliese, das deutsche Weib, die Welt von dem Tyrann. (np)

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