Ein Stich ins Herz der KZ-Gedenkstätte

Dachau - Unbekannte stehlen eine 100 Kilo schwere Tür vom KZ-Gelände in Dachau – und das in Sichtweite der Polizei. Die Mitarbeiter der Gedenkstätte sind empört über die dreiste Tat.
Dachau – Schon diskutiert die Politik über eine Videoüberwachung.
Es ist kurz nach 9 Uhr am Montagvormittag. Doch unter den Schulklassen, die heute das KZ-Gelände besichtigen, ist der Diebstahl schon Tagesgespräch. „Die Tür ham’s geklaut“, tuscheln die Schüler, als sie durch das Jourhaus gehen. Ein Kind nach dem anderen zwängt sich durch den schmalen Durchgang. Und jeder weiß, was fehlt: eine schmiedeeiserne Tür, 95 Zentimeter breit, knapp zwei Meter hoch, mit der zynischen Inschrift: „Arbeit macht frei“.
Der Diebstahl auf dem KZ-Gelände. Eigentlich unfassbar, denn die Gedenkstätte wird nachts bewacht. Sechs bis sieben Mal in unregelmäßigen Abständen patrouilliert ein privater Dachauer Sicherheitsdienst. Und in direkter Sichtachse, gerade mal 100 Meter entfernt und vom Lager nur durch das Flüsschen Würm getrennt, befindet sich die Kaserne der Dachauer Bereitschaftspolizei. Ein Diebstahl in Sichtweite der Polizei. Immer wieder sieht man an diesem Montag Polizisten in ihren grünen Overalls. Die Kaserne ist auch nachts besetzt – das zeigt, wie kaltschnäuzig und geplant die Täter in der Nacht von Samstag auf Sonntag vorgingen.

Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann tritt am späten Montagvormittag vor die Fernsehkameras. Sie ist promovierte Historikerin, sie kennt die Gräuel der NS-Geschichte. Jetzt wirkt sie fassungslos und gestresst. Hammermann steht direkt vor dem Eingang, sie spricht von einem „schweren Angriff“. Dieser Diebstahl, sagt die 51-Jährige, treffe die Gedenkstätte „im Kern“. Neben ihr steht Kultusminister Ludwig Spaenle. Mit ernster Miene sagt er es ähnlich: Diese „infame Attacke“ treffe „die Gedenkstätte im Herz“.
Denn gestohlen wurde ja nicht irgendeine Tür, sondern das Symbol für die Erniedrigung von 200 000 Häftlingen, die zwischen 1933 und 1945 im KZ gefangen und gequält wurden – über 40 000 von ihnen starben. „Arbeit macht frei“, das war quasi die von der SS gewählte Überschrift, unter der diese Gräuel stattfanden. Nicht nur in Dachau stand „Arbeit macht frei“ am KZ-Eingang. Sondern auch in Auschwitz, in Sachsenhausen – und in Flossenbürg in der Oberpfalz. Dort prangte der Spruch auf einer Granittafel. So wütend waren die Häftlinge in Flossenbürg über diesen Zynismus, erzählt Jörg Skribeleit, der Leiter der dortigen KZ-Gedenkstätte, dass sie die Granittafel nach der Befreiung 1945 am Boden zerschmetterten. Davon gibt es ein Foto.
Auch die Original-Inschrift in Dachau ist verschwunden. Niemand weiß, wo sie geblieben ist. Die Leute von der Gedenkstätte setzten 1965 eine Replik in die Original-Tür ein.

Immer wieder muss Gabriele Hammermann die Entstehungsgeschichte der Tür vor den Kameras erzählen. Der kommunistische Häftling Karl Röder hat sie wohl 1936 geschmiedet. Röder, 1911 in Nürnberg geboren, kam im September 1935 ins KZ Dachau. 1939/40 war er in Flossenbürg, danach schickte man ihn zurück nach Dachau. Und 1944 überlebte er noch eine Abkommandierung zu einer SS-Strafeinheit namens „Dirlewanger“, die zu lebensgefährlichen Aufgaben, etwa Minenräumen, an die Front geschickt wurde.
Röder hat später ein Buch geschrieben: „Nachtwache“, heißt es. Und da, auf Seite 12, gibt es eine Passage, die seine Urheberschaft belegt: „ (...) jenes Tor, das ich vor einigen Jahren selber aus schweren Vierkantstäben zusammengeschweißt habe samt dem Spruch aus eisernen Buchstaben darüber: Arbeit macht frei.“ So heißt es im Buch.
Arbeit macht frei – die Nazis verwendeten eine Chiffre, die spätestens im 19. Jahrhundert entstanden war. Schon 1845 taucht sie in einer Schrift „Geld und Geist“ auf. Die Nazis aber, so sagt der Gedenkstätten-Mitarbeiter und Historiker Dirk Riedel, nahmen sie als zynische Umschreibung für den angeblichen Erziehungscharakter der Lager her. „Arbeit macht frei“ suggeriere ja, dass man frei kommen könnte, wenn man nur arbeitete. Das war glatt gelogen.
Über die Diebe gibt es gestern nur Vermutungen. Thomas Rauscher, Chef der Dachauer Polizeiinspektion, spricht von „ersten Hinweisen“ aus der Bevölkerung, will dann aber partout nicht mehr sagen. Haben vielleicht nächtliche Spaziergänger etwas gesehen? Könnten professionelle Diebe im Auftrag eines skrupellosen Sammlers von NS-Devotionalien die Täter sein? Oder Neonazis? „Wir ermitteln in alle Richtungen“, sagt der Beamte. Sicher ist: Die Täter sind mit Plan und Überlegung vorgegangen. „Souvenirjäger kann man ausschließen“, meint Jörg Skriebeleit, der Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Alles deute auf eine „gut überlegte und vorbereitete Provokation“.
Die Tür war im schmiedeeisernen Tor verankert. Es sieht aus, als sei sie schlicht aus den Angeln gehoben worden, aber ganz so einfach war es nicht, sagt zumindest Gabriele Hammermann. Der Täter kamen zwischen Samstag, 23.45 Uhr, und Sonntag, 5.30 Uhr. Das weiß man von der Sicherheitswache, die zwischen diesen beiden Uhrzeiten vor Ort war.
Über die Vorgehensweise gibt es Widersprüchliches. Hammermann sagt, dass die Diebe mit „erheblicher krimineller Energie“ die mit Widerhaken gesicherte Tür „aufgeflext“ haben. Die Polizei kann das nicht bestätigen: „Nach unseren Erkenntnissen wurde die Tür einfach aus den Angeln gehoben“, sagt der Pressesprecher. Wobei das so leicht auch nicht war. Die Polizei hat Fotos von der Tür einem Schmied gezeigt. 80 bis 100 Kilo schwer sei sie, schätzte der. Woraus die Polizei folgert, dass es mehrere Täter waren. „Einer allein schafft das nicht.“ Dann hievten die Täter ihre Beute über ein allerdings leicht zu überkletterndes Flügeltor aus Maschendraht. Das so genannte Jourhaus der SS, also das Eingangsgebäude, liegt nicht direkt an einer Straße. Wer aufs KZ-Gelände will, der geht 200 Meter über einen geteerten Zufahrtsweg, der allerdings auch mit einem Auto gut befahrbar ist. Vielleicht hat sich jemand ein Kennzeichen gemerkt? Der Staatsschutz der Kripo Fürstenfeldbruck ermittelt.
Natürlich entbrennt an diesem Montag auch eine Debatte darüber, ob das KZ-Gelände besser geschützt werden müsse. Mit Videokameras etwa. Unter den Gedenkstätten in Deutschland wird schon länger darüber geredet. Spätestens seitdem fünf polnische Diebe im KZ-Stammlager Auschwitz ebenfalls die Inschrift „Arbeit macht frei“ stahlen. Das war 2009. Die Tat wurde rasch aufgeklärt. Der schwedische Auftraggeber Anders Högström hatte Kontakte zu einer „Nationalsocialistisk front“, er erhielt im Dezember 2010 eine Haftstrafe von zwei Jahren und acht Monaten. Auch diesen Fall will die bayerische Polizei in ihre Ermittlungen mit einbeziehen.
Müssen Gedenkstätten nun geschützt werden? „Wie denn?“, fragt der Historiker Dirk Riedel. Sicher, es gibt Souvenirjäger. Im Bunker am Rand des Geländes, dort wo einst der Hitler-Attentäter Georg Elser in Einzelhaft festsaß, stahlen Unbekannte sogar alte Steckdosen. Und im Gedenkraum am Ende der Dauerausstellung wurden jüdische Symbole zerstört. Aber, fragt Riedel, soll man denn das KZ „hinter Plexiglas“ sichern?
Im Budapester Holocaust-Museum, so erzählt er dann, wird eine Dose, die das Giftgas Zyklon B enthielt, hinter dickem Panzerglas verwahrt wie eine wertvolle Museumsreliquie. Andernorts schließen Museen Überreste des elenden Lagerdaseins wie Essgeschirr aus Blech hermetisch ab.
Fachleute sprechen von einer „Auratisierung“ – ganz profanen Gegenständen wird eine Aura verliehen, die ihnen eigentlich nicht gebührt. So etwas will man in Dachau nicht. Eigentlich.
Trotzdem wird sich die Diskussion darüber nicht verhindern lassen. In der nächsten Sitzung des Stiftungsrats, der den bayerischen Gedenkstätten vorsteht, steht eine stärkere Kontrolle auf der Tagesordnung. Kultusminister Spaenle spricht über mehr „Bestreifung“ und mehr Technik.
Auch Gabriele Hammermann, die sich stets gegen KZ-Gedenkstätten als „Hochsicherheitstrakt“ ausgesprochen hat, sagt jetzt tapfer: „Über die Videoüberwachung müssen wir nachdenken.“
Dirk Walter