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Ausflugstourismus ans Amtsgericht: Wie Corona-Leugner die Justiz beschäftigen

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Von: Josef Ametsbichler

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Das Amtsgericht Ebersberg von außen.
Das Amtsgericht Ebersberg ist in letzter Zeit wiederholt zum Ausflugsziel einer ganz speziellen „Besuchergruppe“ geworden, die bei Verhandlungen zu Corona-Verstößen in wechselnder Besetzung Anklagebank, Zeugenstuhl und Zuschauerraum bestückte. (Archivfoto) © Stefan Roßmann

Rund 100 Bußgeldverfahren wegen Corona-Verstößen sind nach Einspruch am Amtsgericht Ebersberg gelandet. Viele davon aus einer bestimmten Richtung, das zeigt ein Besuch.

Landkreis – Als Gisela Dinker vorm Amtsgericht Ebersberg ins Freie tritt, wird sie von einer Menschentraube bejubelt und beklatscht wie ein Promi. Gerade hat der Richter ein Bußgeldverfahren gegen die Architektin (47) eingestellt – ein Grund zum Feiern. Dinker, die eigentlich anders heißt, hatte im Frühjahr 2021 ohne Schutzmaske in einem Eglhartinger Supermarkt eingekauft. Damals war das im Kampf gegen die Corona-Pandemie eine 250 Euro teure Ordnungswidrigkeit.

„Die Verstöße sind etwas schlecht gealtert“, begründete Richter Leonard Zoth seine Entscheidung. Für den Bußgeldbescheid habe das Landratsamt fast anderthalb Jahre gebraucht. Da war Dinkers Vergehen keines mehr. Es sei verhältnismäßig, das Verfahren daher einzustellen, auch weil sich Dinkers Vergehen „am unteren Rande“ des Spektrums bewege. „Nichtsdestotrotz: Damals war es nicht erlaubt!“, betonte Zoth.

Vorm Amtsgericht Ebersberg geht‘s um die Maskenbefreiung

Reuig zeigte sich die Frau nicht. Schließlich habe sie ein Attest mit Maskenbefreiung gehabt, das auf traumatischen Kindheitserlebnissen beruhe. Näheres wollte sie mit Verweis auf die Anwesenheit des „wahrheitsverdrehenden“ EZ-Reporters in der öffentlichen Verhandlung nicht verraten. Dafür wedelte sie mit einem Meinungsartikel, den sie ausgedruckt hatte, wonach Maskenverordnungen wirkungslos seien.

Ihr „Arzt des Vertrauens“ aus Meck-Pomm steht wegen mutmaßlich gefälschter Atteste vor Gericht

Für den Richter war das Attest mäßig relevant, da es keine Diagnose enthielt. Aussteller war Hausarzt Joachim B. aus Diernhagen (Mecklenburg-Vorpommern). „Das ist der Arzt meines Vertrauens“, erklärte die Frau vor Gericht, weshalb sie für den Schrieb 813 Kilometer Entfernung auf sich genommen habe. Ohnehin vertraue sie lieber ihrer Heilpraktikerin – der sie bei dieser Bemerkung in den Zuschauerraum des Gerichts zuwinkte – als einem Arzt. Die zuständige Staatsanwaltschaft Stralsund wirft dem Mediziner B. das Ausstellen falscher Corona-Atteste vor, die er durch die Republik verschickt habe, ohne die Patienten zu untersuchen. Ein Gericht verhängte gegen ihn ein vorläufiges Berufsverbot. Das Strafverfahren läuft.

Gegen die Patientin Dinker stand zunächst offenbar der Vorwurf des – ebenfalls strafbaren – Anstiftens zum Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse im Raum. Derzeit ist aber nach EZ-Informationen keine Ermittlungssache anhängig. Dass die Frau, die im südwestlichen Landkreis Ebersberg lebt, ausgerechnet jenem nun dort in der ganzen Region medienbekannten Hausarzt an der Ostseeküste vertraut, kann ja auch Zufall sein.

Köpfe aus der Querdenker-Szene: Gruppenausflug ans Amtsgericht

Dass ein gutes Dutzend Menschen ihren Sieg vorm Amtsgericht gegen die Obrigkeit feierte, ist dagegen keiner. In der Gruppe sind Köpfe aus der örtlichen Querdenker-Szene auszumachen. Die eingeschworene Gemeinschaft taucht nicht nur auf den inzwischen geschrumpften und seltener gewordenen Demos auf, sondern auch am Gericht, wenn gegen einen der ihren verhandelt wird. In wechselnder Besetzung – mal als Angeklagte, mal als Zeugen, mal im bis zu 15-köpfigen Publikum. Und im Falle Dinker, alleinerziehende Mutter, zur Kinderbetreuung. Dem Zeitungsreporter, der diesen fröhlichen Ausflug offenkundig stört, fliegt die Drohung einer „Anzeige wegen Lügenverbreitung“ nach.

Rund 100 Ordnungswidrigkeiten-Verfahren (OWI) wegen der Infektionsschutzregeln landeten beim Amtsgericht Ebersberg – wenn jemand gegen einen Bußgeldbescheid des Landratsamts Einspruch eingelegt hatte (siehe Kasten). Sicher sind es nicht nur Impfgegner und Corona-Leugner, die das tun.

1613 Anzeigen, 100 Gerichtsverfahren - und was daraus wurde

1613 Anzeigen wegen Verstößen gegen das Bayerische Infektionsschutzgesetz während der Corona-Pandemie meldet das Landratsamt Ebersberg als behandelnde Behörde. Die meisten davon wegen Verstößen gegen Ausgangssperren, und die Maskenpflicht. In 976 Fällen kam es laut Amt zum Bußgeldbescheid, 208 Fälle hätten sich nach kostenpflichtiger oder kostenloser Verwarnung erledigt, der Rest sei mangels Nachweis oder wegen Geringfügigkeit eingestellt – oder der Zuständigkeit wegen an andere Landratsämter abgegeben worden. Die Bußgelder rangieren zwischen niedrigen drei- (etwa: Verstoß gegen die Maskenpflicht) bis zu höheren vierstelligen (etwa: Gastronomiebetrieb öffnet im Lockdown) Eurobeträgen.

Gegen die Bußgeldverfahren seien 140 Einsprüche eingegangen und damit der Staatsanwaltschaft übergeben worden. Rund 100 davon führten nach Auskunft des Amtsgerichts Ebersberg zu einem Verfahren. Gut ein Zehntel davon endete mit einem Schuldspruch, zwei Verhandlungen mit Freispruch. Ein Viertel mit einer Einstellung wegen geringer Schuld. Beim großen Rest kam es laut Gericht nicht zur Verhandlung, weil die Betroffenen ihren Einspruch zurückgezogen hätten. ja

Ungewöhnliches Zuschaueraufkommen: Amtsgericht Ebersberg geht auf Nummer sicher

Doch ein Großteil der Verfahren ist aus der umtriebigen Poinger Querdenker-Szene hervorgegangen. Etwa bei den Kundgebungen am Bahnhof, wo zwar nicht das Coronaleugnen, aber das Maßnahmenverweigern justiziabel wurde. Das Gericht schreibt bei der Eingangskontrolle Ausweiskopien „zur Identifizierung etwaiger Störer“ vor. Eine ungewöhnliche Maßnahme, doch Besuchermassen bei OWI-Verhandlungen, die sich sonst meist um Verkehrsverstöße drehen, sind ebenfalls nicht normal. Formlose Ermahnungen hätten es bei Zwischenrufen aber bislang getan, so Gerichtssprecher Frank Gellhaus.

Schwerer wiegt da der Aufwand – im Schnitt benötige so eine Verhandlung zwei Stunden Vor- und Nachbereitung durch den Richter und beschäftige neben diesem oft einen Protokollführer, ganz zu schweigen vom vorangegangenen Papierkrieg mit Polizei und Landratsamt. „Wir haben das mit vertretbarem Aufwand zu Ende gebracht“, sagt Gerichtssprecher Gellhaus über die 100 Verfahren, weitere seien nicht ausständig. Bei den Einstellungen, wie im Fall Dinker, zahlt die Rechnung die Staatskasse.

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