„Ich schneide mir die Haut auf“: Kinder unter Druck

Immer mehr Kinder und Jugendliche zeigen psychische Auffälligkeiten. Doch das Hilfsangebot reicht nicht aus. In Ebersberg diskutierten Ärzte das brisante Thema.
Landkreis – Für Kinder und Jugendliche in seelischer Not gibt es ein Netz von Anlaufstellen – von der Schulpsychologin über den Kinderarzt bis hin zu stationären Einrichtungen, die die schlimmsten Krisen auffangen. Doch wer jenen zuhört, die dort an der Basis arbeiten und Erste, Zweite, dauerhafte Hilfe leisten, den beschleicht das Gefühl: Dieses Auffangnetz fasert langsam aus.
Bei einer öffentlichen Fachveranstaltung des Ärztlichen Kreisverbandes Ebersberg kamen am Mittwoch die Ärzte zu Wort. „Wir sind in einem Hamsterrad gefangen“, warnte etwa der Baldhamer Kinderarzt Lampros Kampouridis. Das Kerndilemma ist demnach eines, das auch die Erwachsenenmedizin kennt: Mangel an Fach- und Pflegekräften. Die Kliniken und Praxen verzeichnen zunehmenden Andrang an behandlungsbedürftigen Minderjährigen. Ein Andrang, der sich über die Corona-Pandemie zum Ansturm auswuchs.
Jugendpsychiaterin: Musste Aufnahmestopp verhängen
Die Vaterstettener Kinder- und Jugendpsychiaterin Claudia Michael berichtete, sie habe während der Pandemie einen Aufnahmestopp für ihre Praxis verhängen müssen. Derzeit gebe es wieder eine Warteliste – laut Praxis-Homepage fünf bis sechs Monate, außer im Notfall.
„Die Netzwerke bröckeln“ konstatierte Kinderarzt Kampouridis in der Diskussionsrunde, „Strukturen, die Halt geben, werden wegrationalisiert“, so der Kinderarzt weiter. Besonders während der Corona-Pandemie habe sich bei ihm mit Blick auf das Wohl der Kinder und Jugendlichen der Eindruck verfestigt: „Die Politik hört nicht zu, schaut nicht hin und fragt immer die Falschen.“ Die Stimmen an der Basis, die um mehr Beistand für die an den Rand des öffentlichen Interesses gedrängten Kinder gebeten hätten, seien ignoriert worden. Und ja, das sei auch ein Schuh, den sich die Öffentlichkeit anziehen müsse. „Die Gesellschaft verlangt das nicht genug. Wir sind sehr bequem geworden.“
Rund 100 Zuschauer verfolgen die Diskussion
Das war wohl auch als Aufforderung an das Publikum zu verstehen. Rund 100 Zuschauer waren in den Alten Speicher gekommen. Viele davon Lehrer, Sozialarbeiter, Mediziner oder in anderer Form in der Jugendarbeit tätig, beobachtete Organisator Marc Block, Vorstand des Ärztlichen Kreisverbands. „Eine bunte Mischung, das war genau das Ziel“, sagte er.
Die (Fach-)Besucher sollten durch die Veranstaltung Hilfsangebote kennen, aber auch den Blickwinkel psychisch belasteter Kinder und Jugendlicher sowie Alarmzeichen für konkrete Krisen deuten lernen. „Ich schneide mir die Haut auf, und der Druck kann entweichen“, zitierte Journalistin und EZ-Kolumnistin Uta Künkler („Familienbetrieb“), die die Diskussion moderierte, einen frappierenden, anonymen Erfahrungsbericht einer Teenagerin über das selbstverletzende „Ritzen“.
Druck wird von vielen Seiten aufgebaut
Ein Druck, der von vielen Seiten aufgebaut werde, etwa aus den sozialen Medien oder im persönlichen Umfeld, erklärte Astrid Deuschert, in der Region als Schulpsychologin tätig – eine der fachlichen Anlaufstellen, um wirksame Alternativen zu selbstverletzendem Verhalten aufzuzeigen. Dazu gehöre etwa auch die Magersucht, das Selbstbild zu dick zu sein, berichtete Antje Schmidts, Leitende Oberärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Heckscher-Klinikum München. „Ein Riesenthema, das aus dem Kopf zu bekommen.“
Einen diagnostischen Blickwinkel aus ganz anderer Perspektive lieferte der Grafinger Gerichtsmediziner Oliver Peschel. Er zeigte, auch anhand verstörenden Bildmaterials auf, welche Verletzungsmuster auf häusliche Gewalt hindeuten und wies auf die rund um die Uhr geöffnete Kinderschutz-Ambulanz am Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilian-Universität München hin.
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