Demenzforscherin empfiehlt: Weniger Pillen, mehr Lebensqualität

Weniger Pillen, mehr Lebensqualität - das fordert die Demenzforscherin Janine Diehl-Schmid im Interview. Es gebe gute nicht-medikamentöse Therapien.
Landkreis – Dass Menschen mit einer demenziellen Erkrankung von individuell auf sie angepassten nicht-medikamentösen Behandlungsformen profitieren können, „wissen wir Behandler überall auf der Welt“, sagt Prof. Dr. Janine Diehl-Schmid. Die international anerkannte Demenzforscherin, die im Landkreis Ebersberg wohnt, wünscht sich mehr Bewusstsein für Behandlungsformen ohne Medikamente. „Es ist wichtig, dass Hausärzte, Neurologen und Psychiater der Lebensqualität ihrer Patienten Bedeutung zumessen“, so die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.

Frau Prof. Diehl-Schmid, wie verbreitet ist das Wissen über nicht-medikamentöse Therapien bei einer demenziellen Erkrankung?
Ich denke, es ist nicht sehr verbreitet. Man erwartet ja normalerweise vom Arzt, dass dieser Medikamente verschreibt. Der Arzt rezeptiert Antidementiva, also Medikamente, welche die Gedächtnisleistung positiv beeinflussen, Antidepressiva, wenn der Mensch mit Demenz an Depressionen leidet, Schlafmittel bei Schlaflosigkeit, Antipsychotika bei ausgeprägteren Verhaltenssymptomen wie Unruhe, Angst, Wahn oder Sinnestäuschungen. Für die meisten nicht-medikamentösen Therapien gibt es keinen Rezeptblock. Krankengymnastik, Sprachtherapie und Beschäftigungstherapie zum Erhalt lebenspraktischer Fähigkeiten kann der Arzt zwar verordnen, darüber hinaus weiß er dann aber oft selbst gar nicht so genau, was er empfehlen könnte. Denn das ist individuell sehr unterschiedlich, es muss sich exakt an den Bedürfnissen des Menschen mit Demenz orientieren: Wie fortgeschritten ist seine Demenzerkrankung, wie steht es um seine Mobilität und körperliche Fitness, lebt er daheim oder im Heim, wie unterstützend und mobil sind seine Bezugspersonen?
Was raten Sie Betroffenen und deren Angehörigen?
Ich lege Ihnen dringend ans Herz, ihren Arzt nach nicht-medikamentösen Therapien zu fragen. Natürlich müssen die Therapien auch angeboten werden und erreichbar sein. Wir haben im Landkreis Ebersberg unterschiedlichste Therapeuten vor Ort und eine breite Palette von Beratungs- und Unterstützungsangeboten für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Diese reichen zum Beispiel von der Alzheimer Gesellschaft im Landkreis Ebersberg über Betreuungsgruppen des Caritas-Zentrums in Grafing bis zum Zentralen Sozialdienst des Landratsamtes Ebersberg oder die Projektgruppe Demenz der Gesundheitsregion plus im Landkreis Ebersberg. In vielen Pflegeheimen sind nicht-medikamentöse Therapien in das Tagesprogramm integriert. Hier lohnt es sich, nachzufragen, an welchen Behandlungsgruppen der Bewohner mit Demenz teilnimmt.
Welche nicht-medikamentösen Therapien eignen sich für wen?
Nicht-medikamentöse Behandlungen empfehlen sich gleich nach Diagnosestellung, man kann ihre Eignung grob an den drei Stadien der Demenz leicht, mittelgradig und schwer festmachen. Im leichten Stadium, wenn es um Krankheitsverarbeitung, Angst oder Depression geht, kann eine Psychotherapie Entlastung bringen. Außerdem haben kognitive Verfahren wie Gedächtnistraining oder Beschäftigungstherapie zum Erhalt lebenspraktischer Fähigkeiten eine große Bedeutung. Körperbezogene Verfahren wie Physiotherapie, Gruppensport, Yoga, Tanzen und Entspannungsverfahren wie beispielsweise Massagen oder Atemtherapie eignen sich in allen Stadien. Ebenso kreative Verfahren, besonders die Menschen mit Demenz stark ansprechende Musiktherapie. Kunsttherapie eignet sich für jene im leichten oder mittelgradigen Stadium. Generell gilt bei all diesen Therapien, dass sie so ausgewählt werden sollten, dass die Patienten weder über- noch unterfordert werden.
Wie helfen diese Therapien den Betroffenen?
Alle Therapien zielen zum Teil auf bestimmte Funktionen ab, etwa Gedächtnis oder körperliche Fähigkeiten. Zusätzliches Ziel all dieser Maßnahmen ist aber der positive Effekt auf die Stimmung und damit die Lebensqualität. Gerade im leichten Stadium hilft es den Menschen sehr, zu erleben: Ich tue etwas für mich. Generell wirken die Angebote ablenkend, wecken Vorfreude, bereichern durch das Gruppenerlebnis, lenken den Blick auf das, was noch möglich ist, bieten Erfolgserlebnisse. So wirken sie stimmungsaufhellend und verbessern die Lebensqualität.
Wie lässt sich die Lebensqualität bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz beurteilen?
Wenn die Menschen mit Demenz krankheitsbedingt nicht mehr in der Lage sind, sich zu ihrem Befinden zu äußern, ist es wichtig, genau hinzusehen. Mimik und Gestik des Patienten geben Aufschluss darüber, wie es dem Patienten geht. Ist er ruhig und gelassen oder wirkt er getrieben? Lächelt er viel oder blickt er grimmig und unzufrieden? Sucht er Kontakt zu Mitmenschen, schmeckt ihm das Essen?
Die nachhaltige Reduktion von dämpfenden Psychopharmaka bei Heimbewohnern mit Demenz will das von Ihnen geleitete Forschungsprojekt DECIDE erreichen?
Ja. Dämpfende Psychopharmaka werden Menschen mit Demenz meist einmal in Krisensituationen verschrieben und häufig nie mehr hinterfragt. Es fehlt das Bewusstsein für bedarfsgerechte Anpassung, Reduzierung oder Absetzen. Der Hauptzweck unseres vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege geförderten und zur Bayerischen Demenzstrategie zählenden Projekts ist es, ein Bewusstsein für den verantwortungsvolleren Einsatz von Psychopharmaka zu erreichen. Wir sehen zu hohe Verschreibungshäufigkeiten beruhigender Medikamente, die leider viele unerwünschte Nebenwirkungen haben. Dabei kann aktivierende, strukturierende Betreuung und Pflege zusammen mit den nicht-medikamentösen Therapien die Befindlichkeit und Lebensqualität der Menschen mit Demenz erheblich verbessern, sodass dämpfende Medikation in vielen Fällen gar nicht mehr erforderlich ist oder zumindest erheblich reduziert werden kann.
Die Fragen stellte Ina Berwanger
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