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Dimensionen von Flucht greifbar machen: In Freising entsteht ein Kunstprojekt, das zum Dialog einlädt

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Von: Magdalena Höcherl

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Peter Weismann baut einen Brunnen auf dem Domberg
Ein Ort zum Innehalten: Auf der Aussichtsplattform auf dem Freisinger Domberg lässt der Künstler gerade einen Brunnen entstehen. Diese Skulptur begleitet die Installation MARE NOSTRUM längs der Isar bis Februar. Die Pflastersteine sind eine Leihgabe – sie gehören eigentlich zur Großbaustelle auf dem Mons doctus. © Lehmann

Peter Weismann arbeitet in Freising an einer Installation zum Thema Flucht. Ein Kunstprojekt, das unfassbare Dimensionen greifbar macht und den Dialog fördern will.

Freising – Stein um Stein schleppt Peter Weismann an diesem Tag zum Belvedere auf dem Freisinger Domberg. Es ist warm, die Herbstsonne taucht die Domstadt in ein goldenes Licht. Mittendrin der Mann mit weißem Haar, schwarzer Arbeitshose, schwarzem Pullover und Sonnenhut, der ruhig und beharrlich Pflastersteine in einem Kreis anordnet.

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Peter Weismann (78) ist Künstler, der Brunnen Teil einer Installation, an der er seit gut zwei Jahren arbeitet. Ihr Name: MARE NOSTRUM längs der Isar. Damals entdeckte er in einer Berliner Zeitung eine Liste, das Werk zweier Journalistinnen. Sie hatten versucht, die Namen der 35 000 Menschen zusammenzutragen, die in den vergangenen 25 Jahren auf der Flucht nach und in Europa ums Leben gekommen sind. Für Weismann, der in München lebt und sich künstlerisch seit über 30 Jahren mit dem Thema Flucht beschäftigt, war diese Veröffentlichung – mit dem Titel „Todesursache: Flucht – Eine unvollständige Liste“ im Hirnkost-Verlag erschienen – im wahrsten Sinne des Wortes der Stein des Anstoßes für sein aktuelles Projekt, eine Art Vermächtnis dieser Toten.

Gravur mit Zahnarztbohrer

Seit Juni 2019 sammelt er Münchner Kiesel an der Isar und graviert darauf mit einer Dremel-Maschine und einem ausrangierten Zahnarztbohrer die Namen der Menschen ein, die auf der Flucht, meist über das Mittelmeer, ums Leben gekommen sind. Von den meisten der 35 000 ist kein Name, ja nicht einmal das Heimatland bekannt. Diese Steine versieht der Künstler mit den Initialen „NN“ für „No Name“ oder auch das lateinische „Nomen nominandum“ – der Name, der noch einzusetzen ist.

Künstler Peter Weismann zeigt einen der gravierten Steine
Einer von 35 000: Peter Weismann graviert die Namen der Menschen, die auf der Flucht umgekommen sind, auf Kiesel. Wann er mit seinem Kunstprojekt fertig sein will? „Ich habe keinen Zeitplan.“ © Lehmann

„Ich möchte diese abstrakte Zahl von 35 000 in eine sinnlich erfahrbare, konkrete Form bringen“, erklärt Weismann. Die gravierten Steine kommen an ihren Ursprungsort, an die Isar, zurück. „Von der Quelle im Karwendel bis zur Mündung in die Donau ist die Isar 300 Kilometer lang. Das bedeutet: alle acht Meter ein Stein.“ Weismann versteht sein Projekt nicht als Mahnmal. Es sei vielmehr „ein poetisches Klagelied aus einem ohnmächtigen Zorn“, das diese Dimension aufzeigen will. „Das ungeheuerliche Vorgehen im Mittelmeerraum, an den Grenzen Europas, ist ein eklatanter Bruch mit den Grundlagen Europas, mit dem, was Europa in der Welt definiert.“

Jeder eingeladen, ins Gespräch zu kommen

Um an dieser „Spur der stillen Klage“ zu arbeiten, sucht sich Weismann immer wieder öffentliche Orte in Städten an der Isar, nach Stationen in München und Landshut hat er sich derzeit in Freising niedergelassen. Immer wenn es die Witterung zulässt, sitzt er auf dem Domberg und graviert Kiesel. An seinem Tisch steht ein zweiter Stuhl. Jeder, der sich danach fühlt, kann darauf Platz nehmen und mit dem Künstler ins Gespräch kommen. „Sie fragen mich, was ich hier mache, und ich erkläre es. Meist geht es schnell um die eigene Geschichte, um Vertreibung, Krieg oder Krankheit“, erzählt Weismann. „Offensichtlich bewegt das, was ich hier mache, die Leute in ihrer eigenen Geschichte, ihren eigenen kleinen und großen Fluchten.“

In jeder Stadt, in der er arbeitet, erschafft der Künstler eine temporäre Skulptur. In Freising ist das der Brunnen, der – einmal fertig – mit gravierten Steinen gefüllt und mit Wasser geflutet werden soll. Auch diese Werke lässt Weismann organisch entstehen. Er arbeitet mit den Materialien, die er vor Ort findet. „Hier habe ich die Pflastersteine von der Baustelle gesehen. Die darf ich zwischennutzen bis Februar.“

An diesem Tag ist einiges los auf dem Belvedere, die Freisinger genießen den fast spätsommerlichen Nachmittag. Eine Frau, die sich mit einer Freundin hier augenscheinlich einen Moment Pause vom Alltag genommen hat, betrachtet Weismann, wie er einen Stein nach dem anderen auf den Boden legt. Im Vorbeigehen fragt sie: „Entschuldigung, was machen Sie denn da eigentlich?“ Er antwortet: „Ich baue einen Brunnen.“ Im Weggehen sagt sie: „Schön! Ich bin gespannt, wenn er fertig ist.“

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