Vortrag über die NS-Krankenmorde: Das dunkelste Kapitel Freisings

Politikwissenschaftler Guido Hoyer lud zum Vortrag über die NS-Krankenmorde ein. Dabei wurden erschütternde Details bekannt. Etwa, dass noch 20 Freisinger Schicksale im Dunkeln liegen.
Freising – Es sind zwölf neue Stolpersteine, die seit Freitag auf die Schicksale jener Freisinger Bürger hinweisen, die auch heute noch kaum in Worte zu fassen sind und gerade deshalb immer wieder aufs Neue erzählt werden müssen – gegen das Vergessen (wir berichteten). Am Freitagabend lud Politikwissenschaftler und Linken-Stadtrat Guido Hoyer zu einer biografischen Rückschau jener Bürger, die zur Zeit des NS-Regimes aufgrund einer Behinderung erst „aussortiert“ und dann in die Gaskammer geschickt wurden – ein Vortrag, der zu Tränen rührte und sprachlos machte.
„Ich muss Sie vorwarnen: Es ist ein grausames Thema, über das ich heute spreche“, sagte Hoyer einleitend zu den knapp 30 Besuchern, die sich in der Stadtbibliothek eingefunden hatten. „Und ich muss Sie auch enttäuschen, denn das ist kein Abschlussbericht über die Krankenmorde aus Freising.“ Die Suche nach Krankenakten und Hinweisen war laut Hoyer nämlich mühsam und sei bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Seine Schätzung: „Es kommen noch mindestens 20 Menschen aus dem Landkreis dazu – und auch hier müssen wir das Gedenken dringend angehen.“
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Hoyer erklärte, dass er lange gezögert, sich aber letztlich dafür entschieden habe, aus den Krankenakten vorzulesen. „Diese Sprache ist nicht gerade von einer Wertschätzung geprägt“, sagte er und erklärte vorab, wie schnell etwa „Auffällige“ zu einer Zwangssterilisation gezwungen wurden, um vermeintliche „Erbkrankheiten“ zu verhindern – Krankheiten, unter denen neben psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie auch Gehörlosigkeit und Alkoholismus zu finden waren. Rund 400 Menschen waren im Landkreis Freising von dem damaligen Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ betroffen.
Die Diagnosen, die zu einer Einlieferung in eine psychiatrische Einrichtung führen konnten, waren dabei nicht nur mannigfaltig, sondern rückschauend betrachtet oftmals auch verstörend. Wie die von Bartholomäus Bauer, wohnhaft in der Apothekergasse 5. In einem Krankenblatt von Bauer wird als Aufnahmegrund genannt: „Lachte immer, redete für sich, arbeitete nichts.“ Ein späterer Vermerk ging dann noch deutlich weiter: „Isst hastig wie ein Tier. Verblödet, stumpf.“ Bauer gehörte dann zum ersten Transport von der Psychiatrie Gabersee in die „Tötungsanstalt“ Hartheim im Jahr 1940.
Ähnlich verstörend klingen die Krankenbeobachtungen zu Anna Hufschmid, wohnhaft in der Altenhauser Straße: Sie habe sich nämlich mit beiden Ellbogen auf den Tisch „gelümmelt“ und habe sogar die Füße auf die Bank legen wollen. Zudem sei sie renitent gewesen und gewaltbereit. 1940 wurde Anna Hufschmid von Gabersee ins Schloss Hartheim verlegt, wo sie sofort nach der Ankunft vergast wurde.
Was Hoyer durch penible Recherche gelungen ist, sind möglichst umfangreiche Biografien, die den Opfern zwar kein Gesicht, aber eine Seele geben. „Nach der Befreiung 1945 fand man in den Rumpelkammern auf Münchner Friedhöfen 4000 Urnen mit den Aschen ermordeter Menschen“, sagte Hoyer. Sie alle wurden dann würdig im Perlacher Forst bestattet. Darunter befanden sich auch fünf Freisinger, die aufgrund ihrer Krankengeschichte ermordet worden waren.
Nach dem über 90-minütigen Vortrag wurde es ganz still im Raum. Bis eine Dame aus dem Publikum sagte: „Es kann alles wiederkommen. Deshalb müssen wir sehr aufpassen.“
Richard Lorenz
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