Mitansehen müssen, wie die eigene Schwester erschossen wird; in einem völlig überfüllten Boot übers Meer fliehen und dabei Todesängste ausstehen; ganz alleine monatelang zu Fuß durch fremde Länder flüchten – die Jugendlichen haben Unvorstellbares durchgemacht. „Diese Geschichten mit Pinsel und Farbe zum Ausdruck bringen zu dürfen, bedeutet gesehen und gehört zu werden“, sagt Kuehn. „Es heißt auch, würdevoll Teil der Gesellschaft sein zu dürfen.“ Das Malen auf dem großformatigen Papier und das Betrachten der eigenen Bilder soll den Flüchtlingen außerdem eine neue Sichtweise auf das Erlebte möglich machen. Parallel dazu arbeiten die Jugendlichen an einem Film, den sie selbst mit ihren Handys aufnehmen und der Bestandteil einer Ausstellung im kommenden Herbst werden soll.
Die Projektleiterinnen loben, wie aufgeschlossen und zielstrebig die Jugendlichen bei der Sache seien und wie respektvoll sie selbst von den jungen Leuten behandelt würden. Natürlich, so Kuehn, sei der Weg zur Integration dennoch weit und von vielen Vorurteilen gepflastert. „Nicht nur von Seiten der Deutschen. Auch die Flüchtlinge haben oft ganz falsche Vorstellungen“, berichtet Kuehn. „Viele von ihnen glauben zum Beispiel, dass wir Deutschen alle reich sind und einen schicken BMW fahren.“ Bei der Integration von Nutzen sei allerdings, dass auch die Herkunftsländer der Migranten über uralte Traditionen und eine ausgeprägte Kultur verfügen. Kuehn ist sich deshalb sicher: „Wir gewinnen von diesen Menschen. Menschen, die niemals ihre Heimat verlassen hätten, wenn sie dort in Frieden leben könnten.“
In Frieden leben zu können, ist eben keine Selbstverständlichkeit. Dies zeigt auch der jüngste Bericht der UNO-Flüchtlingshilfe. Dort wird die Zahl der Menschen, die Ende 2020 vor Krieg und Verfolgung flohen, mit rund 79,5 Millionen weltweit beziffert. Etwa 42 Prozent der Geflüchteten waren jünger als 18 Jahre. Wie viele dieser Migranten in ihrer neuen Heimat erfolgreich Fuß fassen konnten, verrät der Bericht nicht. Was Ahmad Siar Hakimi betrifft, so hat er inzwischen die Mittelschule in Fürstenfeldbruck beendet, ein Praktikum in einer Wohngruppe für behinderte Menschen absolviert und eine Ausbildung zum staatlich geprüften Sozialbetreuer abgeschlossen. Im September wird er seine erste Arbeitsstelle in Landsberg antreten. Sich aufs Lernen zu konzentrieren, sei ihm allerdings sehr schwergefallen, erinnert sich der junge Afghane: „Die Hälfte meiner Gedanken ist immer noch in Afghanistan, mitten im Krieg. Ich denke vor allem an meine Schwestern. Eine der beiden möchte Ärztin werden, die andere Anwältin. Wie sollen diese Träume jemals Wirklichkeit werden?“
Jutta Thiel