Passionsspiele 2022: Oberammergau feiert Auferstehung nach Corona - Dorf im Ausnahmezustand

Am 14. Mai beginnen die Passionsspiele in Oberammergau – und das ganze Dorf bereitet sich vor. Nicht nur wegen der Corona geschuldeten Verschiebung sind es besondere Spiele. Ein Ortsbesuch.
Oberammergau – Anton Preisinger nimmt ein Bild von der Wand. „Ich, vor zwanzig Jahren“, sagt der 54-Jährige und deutet auf sein bärtiges, jüngeres Ich. Damals spielte er Judas, den Mann, der Jesus verrät. Heuer ist er Pilatus, der Mann, der ihn ans Kreuz schlagen lässt. Mit dem Bösewicht-Image kommt Preisinger gut klar. „Als Pilatus bin ich endlich inkognito unterwegs“, sagt er. „Damals wurde ich immer gleich gefragt, ob ich Darsteller bin – wegen dem wilden Bart.“

Wer durch Oberammergau läuft, sieht gerade viele bärtige Männer. Seit Monaten wuchert es in der kleinen Alpengemeinde im Kreis Garmisch-Partenkirchen. Der Haar- und Barterlass verbietet Darstellern der Passion* die Rasur. Nur Römer dürfen ihr glattes Kinn behalten. Ein Opfer des Erlasses ist auch Cengiz Görür. Mit Vollbart, Kapuzenpulli und Käppi radelt er durch den Ort. Tagsüber ist er Pizzalieferant, abends probt er stundenlang im Passionstheater. Als Judas hat der 22-Jährige schließlich eine der tragenden Rollen.
Passionsspiele 2022 in Oberammergau: Anton Preisinger spielt zum sechsten Mal mit
Spielleiter Christian Stückl* höchstpersönlich hat ihn entdeckt. 2016 war das, in der Eisdiele „Paradiso“ gleich um die Ecke vom Passionstheater. „Mir gefällt deine Stimme“, sagte Stückl, lud Görür zur Sprechprobe ein – und gab ihm Rollen in seinen Theaterstücken. „Mit Theater hatte ich davor gar nichts am Hut“, sagt Görür, dessen Eltern ein Hotel im Ort betreiben. Irgendwann habe Stückl dann gesagt: „Cengiz, i dad di a kaffa!“. Dem bayerischen Lob folgte ein Versprechen. „Christian versprach mir eine Rolle, bei der mir die Ohrwaschl schnackeln würden.“
Christian versprach mir eine Rolle, bei der mir die Ohrwaschl schnackeln würden – und die schnackelten dann echt.
Und so kam es, dass Görürs Name 2018 auf die schwarze Tafel geschrieben wurde*, die feierlich die Rollen für die Passion verkündet. „Meine Ohren schnackelten echt. An Judas hätte ich nie gedacht.“
Passionsspiele 2022 in Oberammergau: Jede Rolle ist doppelt besetzt
Der Tag in der Eisdiele hat Görürs Leben auf den Kopf gestellt – und ging als kleine Sensation durch die Medien. Mit ihm spielt erstmals ein Muslim eine Hauptrolle bei den Passionsspielen. Görur selbst kann den Rummel um seine Person nicht verstehen. „Mein Papa stammt aus der Türkei, ist aber hier aufgewachsen und ich bin in Garmisch geboren.“ Dass er den Judas spiele, sei doch „weltoffene Normalität“.
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Dass Cengiz Görür gleich zum Judas wird, ist trotzdem ungewöhnlich. Die Rolle des Judas ist begehrt, weil sie so vielschichtig ist. „Normalerweise spielt man erst Jesus, dann Judas, heißt es in Oberammergau“, erzählt Rochus Rückel und lacht. Er ist einer von zwei Jesus-Darstellern. Jede Rolle bei der Passion ist doppelt besetzt.
Der 26-Jährige wäre 2020 der zweitjüngste Jesus-Darsteller aller Zeiten gewesen. Jetzt, nachdem die Passion sich wegen Corona verschoben* hat, steht Rückel vor der Herausforderung, die Jesus-Rolle und seine Master-Arbeit zeitgleich zu meistern. „Uni, Textlernen und mindestens vier Stunden Probe“, beschreibt er seinen Tagesablauf. Dazwischen ein paar Interviews. „Das gehört eben dazu, aber nach zwei Jahren bin ich jetzt einfach heiß auf die Bühne.“

So geht es auch Sophie Schuster, heuer Magdalena auf der Bühne. „Bei der Passion gibt es ja nur zwei große Rollen für Frauen: Maria und Magdalena.“ Und Magdalena passt ins Repertoire der 26-Jährigen. Nach Shakespeares Julia und der Geier-Wally , die sie schon gespielt hat, wieder eine starke Frau.
Passionsspiele 2022: Nachwuchsschauspieler werden immer jünger
Görür, 22, Rückel, 26, und Schuster, auch erst 26 – die Passion ist wieder sehr jung. Gezielt hat Christian Stückl die letzten zwanzig Jahre junge Talente gesucht. Bei den Proben zeigt sich ihre ganze Euphorie*, obwohl die Ränge im Passionstheater noch leer sind. „Jede Passion ist einzigartig und im Ort rührt sich was“, sagt Schuster. Ausnahmezustand eben.
Um die Passion ranken sich viele Legenden. Fast jeder Bewohner hat eine andere auf Lager. Alle zehn Jahre entstehen neue. Ob sie je passiert sind, ist Nebensache. Spannend sind sie allemal. So soll einmal ein Blitz direkt hinter der Freiluftbühne eingeschlagen haben – genau, als Jesus bei der Kreuzigung mit der Lanze gestochen wurde. Reihenweise sollen die Zuschauer in Ohnmacht gefallen sein. Oder: An kalten Tagen wird der Jesus angeblich mit Vaseline eingerieben – zwecks der Wärme. „Die Geschichte kenne ich nicht“, sagt Rückel erstaunt. „Aber ich habe mal von Tigerbalsam gehört.“
Die Geschichte der Passionsspiele in Oberammergau
Viele Oberammergauer verloren ihr Leben, als im 30-jährigen Krieg die Pest im Dorf tobte. Einige Bürger gelobten 1633, alle zehn Jahre die Passion aufzuführen, wenn die Pest das Dorf verlasse. Den Überlieferungen zufolge gab es danach kein Pestopfer mehr. 1634 führten die Oberammergauer die Passion erstmals auf. Mit der Zeit wurden die Texte überarbeitet. Seit 1990 ist Christian Stückl Spielleiter und hat das Laienspiel grundlegend modernisiert. Im selben Jahr wurden Frauen per Gerichtsentscheid gleichberechtigt. Vorab tobte ein Streit, weil verheiratete Frauen und über 35-Jährige nicht mitmachen durften. Eines gilt bis heute: Wer mitspielt, muss dort geboren sein oder seit 20 Jahren dort leben. (sco)
Die Liebe zur Passion wird vielen Oberammergauern in die Wiege gelegt. Bei den Preisingers gab es Wirtsgene obendrein. Die Familie betreibt das älteste Gasthaus im Ort. Vater und Sohn (Anton Preisinger Junior spielt heuer den Apostel Johannes) stehen bis Oktober nicht nur auf der Bühne, sondern auch hinter Tresen und Rezeption. Ihre Gäste reisen aus ganz Europa, sogar aus Asien und den USA an. „In Passionsjahren müssen wir die Zahl unserer Mitarbeiter verdoppeln“, sagt Preisinger. Sein Handy klingelt – der Maler. „Das Hotel halten wir immer in Schuss, aber zur Passion investiert man noch intensiver.“
Vor Passionsspielen in Oberammergau: Ein Dorf steht Kopf - Geschäftsleute bereiten sich vor
Auch gegenüber wird gewerkelt. Noch ist die Dorfstraße, mit prächtig bemalten Häusern Traumkulisse für jeden Heimatfilm, recht leer. In vier Wochen drängeln sich hier aber wieder Tausende durch die Magdalenengasse und den Kreuzweg. Holzbildhauer Florian Lang vergrößert gerade sein Geschäft um einen Raum. Die Kruzifixe hängen, die Madonnen warten schon. „Wegen Corona sollen die Kunden mehr Platz haben“, sagt der 63-Jährige.
Ihr Kontingent an Krippenfiguren, Engeln und Brotzeitbrettln hat die Ammergauer Krippenstube aufgestockt. „Wir freuen uns auf die Passion, weil Corona für uns fast das Aus gewesen wäre“, sagt Marie Huber. Bald brennt die 20-Jährige im Souvenirladen wieder Motive wie das Schloss Neuschwanstein im Akkord in die Brettl. Nach Ladenschluss huscht sie weiter auf die Bühne im Passionstheater. Sie spielt im Volk.

Für Holzbildhauer Tobias Haseidl ist die „ganz heiße Phase“ fast vorbei. Seit 2019 baut er am Bühnenbild. Nur noch eine Farbkorrektur hier, ein paar Griffe dort. „Jedes Element muss gut greifbar sein, damit es bei der Aufführung schnell umgebaut werden kann“, sagt der 57-Jährige. Die Feile tauscht er jetzt wieder gegen sein Horn und probt jedes Wochenende im Orchester. „Die Passion ist ein Zeitfresser – aber für den Ort ein besonders schöner.“

Passionsspiele in Oberammergau: Bürgermeister Andreas Rödl im Interview
Andreas Rödl, 36, war früher Polizist, seit 2020 ist er für die CSU Bürgermeister von Oberammergau. Rödl singt bei der Passion im Chor.
Herr Rödl: Was ist eigentlich Ihre erste Erinnerung an die Passionsspiele?
Als Fünfjähriger war ich 1990 beim Einzug in Jerusalem auf dem Arm meines Papas mit dabei. Ich hatte das Gefühl, die 4500 Augenpaare im Publikum schauen nur mich an. Das war total irre und ist mir im Gedächtnis geblieben.
Lampenfieber?
Um Lampenfieber zu haben, bleibt kaum Zeit. Ich bin Tenor im Chor. Wir proben jedes Wochenende und bald noch öfter. Zum Glück gibt es „Schmiermittel“ für die Stimme. Mit der richtigen Atemtechnik bräuchte man die eigentlich gar nicht. Das sehe ich an meinem sieben Monate alten Sohn Fritz, der nie heiser wird. (lacht)
Sie singen also noch gar nicht so lange?
Im Schulchor habe ich früher mal gesungen. Für die Passion habe ich mich angemeldet, weil Tenöre gesucht wurden. Meine Mutter hat früher solo gesungen – irgendwas wird schon hängen geblieben sein, dachte ich mir. Als 2018 die Proben starteten, wurde mir klar: So einfach aus der Schulter raus geht das nicht. Mittlerweile bin ich wieder drin und singe am liebsten die Stücke vom Kreuzweg.
Ist Ihr Sohn Fritz heuer auch schon mit dabei?
Er ist fest eingeplant und darf seine erste Passion auf jeden Fall miterleben. Wie, überlegen wir noch. Meine Frau Lena ist Herodesdienerin, mein Schwiegervater singt Bass, meine Schwiegermama steht an der Garderobe. Meine Mutter darf heuer aber nicht mitspielen. Sie muss auf ihren Enkel aufpassen. (lacht)
Wie bereitet sich die Gemeinde vor?
Nach der Passion ist vor der Passion. Die Vor- und Nachbereitungen dauern jeweils Jahre. Dieses Mal beschäftigt uns aber vor allem das neue Sicherheitskonzept, das wir mit Polizei, Feuerwehr und Sanitätsdienst erarbeitet haben. 2010, als die letzte Passion stattfand, waren die Zeiten noch anders. Nach dem Loveparade-Unglück und mehreren Terroranschlägen brauchen auch wir Videokameras, Poller, die die Zufahrten sichern, und Sicherheitspersonal. Größere Taschen und Gepäck sind verboten.
Die Passionsspiele sind auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für den Ort.
In erster Linie wollen wir unser Gelübde einhalten. Aber klar, die Passion ist auch unsere Haupteinnahmequelle und für viele Unternehmen im Ort enorm wichtig. Bei Vollauslastung kommen 450 000 Zuschauer. 2010 haben wir 40 Millionen Euro Gewinn gemacht. Andere Orte haben Großkonzerne, die Gewerbesteuer zahlen, wir eben die Passion. 75 Prozent der Karten sind schon verkauft.
Stärkt die Passion die Dorfgemeinschaft?
Klar. Ein Drittel unserer 5422 Einwohner spielt mit – und das Projekt bringt sie zusammen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Meine Eltern haben sich bei den Passionsspielen 1980 kennengelernt. Meine Frau und ich uns 2010. Es ist das gesellschaftliche Event. Viele, die außerhalb studieren oder arbeiten, kehren zur Passion zurück. Es soll sogar junge Leute geben, die Single bleiben wollen, um erst hier jemanden kennenzulernen. (sco)
Die Passionsspiele finden von 14. Mai bis 2. Oktober statt. Preise: 30 bis 180 Euro. Ticket-Hotline: 088 22/ 835 93 30. Noch mehr aktuelle Nachrichten aus dem Landkreis Garmisch-Partenkirchen finden Sie auf Merkur.de/Garmisch-Partenkirchen. * Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA