Unfallklinik Murnau: Roboter bringt Schwerstkranke Schritt für Schritt in Bewegung

Ein Robotersystem mit künstlicher Intelligenz hilft in der Unfallklinik Murnau, bei schwerstkranken und massiv verletzten Patienten bereits auf der Intensivstation die Bewegungsfähigkeit zu fördern und zu erhalten. Eine hochkomplexe Therapieform, die nur wenige, handverlesene Hospitäler anbieten.
Murnau – Der Patient zählte zu den besonders schweren Covid-Fällen: ein 53-Jähriger, sportlich, aber ungeimpft, der sich Anfang November 2021 mit Corona infiziert hatte. Die Krankheit verlief verheerend. Nach Intubation und künstlicher Beatmung versagte seine Lunge. Ein Ersatzverfahren, die ECMO-Therapie, die in solchen Fällen das Ende der Fahnenstange darstellt, sollte ihn retten. Er wurde dazu ins Intensivzentrum der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik (BGU) Murnau verlegt, die diese hochspezialisierte Methode anbietet. Die Schwere und die lange Dauer der Covid-Folgen sorgten dafür, dass der Patient einen großen Teil seiner Muskelmasse verlor. Schließlich war er nicht mehr in der Lage, Beine, Arme oder Hände zu bewegen. Ein Roboter könnte einen wichtigen Beitrag geleistet haben, ihn auf den Weg zurück ins Leben zu bringen.
Unfallklinik Murnau: Roboter sorgt für Bewegungstraining mit allen positiven Effekten
Genauer: Vemo. Die Abkürzung steht für die englische Übersetzung von sehr früher Mobilisierung. Dahinter verbirgt sich ein innovatives, robotisches Assistenzsystem. Das Prinzip: Geeignete Patienten werden im Bett bis zu 70 Grad aufgerichtet und sitzen gesichert auf einer Art runder Bank, Beine und Füße eingespannt. Dann führen diese, unterstützt von künstlicher Intelligenz, eine halbe Stunde lang Steppbewegung aus – je nach Leistungsfähigkeit des Betroffenen gewährt der Roboter mehr oder weniger Beistand und reagiert dabei auf Veränderungen. Mitunter übernimmt er die Führung komplett. „Vemo“, sagt Marlena Ahrens, Bereichsleiterin in der BGU-Physiotherapie Querschnitt, „ist eine Art Bewegungstraining mit allen positiven Effekten.“ Für Muskeln, für den Kreislauf.
System kommt auf der Intensivstation direkt am Bett zum Einsatz
Das System kommt hauptsächlich auf der Intensivstation zum Einsatz, am Bett massiv tangierter Menschen: die zum Beispiel an der künstlichen Lunge (Ecmo) hängen, vielfach schwersterkrankt sind, ein Polytrauma nach einem Unfall aufweisen, eine Sepsis mit Multiorganversagen erlitten haben oder etwa eine Querschnittlähmung. Der Roboter setzt an einer zentralen Erfahrung der Intensivmedizin an: „Wir wissen, dass Frühmobilisierung im Allgemeinen positive Effekte hat“, sagt Florian Bäumel, Pflegewissenschaftler an der BGU, „Deshalb gehen wir fest davon aus, dass Vemo einen Benefit hat.“ Er vermöge indes nicht zu beurteilen, ob diese „ursächlich“ sei für den Zustand des erwähnten Covid-Patienten. Und Bäumel stellt auch klar, dass es sich um keine Wundermaschine handelt: „Ich kann nicht sagen: Das Ding ist ein Heilmittel für alles. Aber es kann eine Entlastung sein und Mobilisierung ermöglichen in Situationen, in denen diese sonst nicht möglich wäre.“
Selbst bei bewusstlosen, voll beatmeten Menschen ist Schritttraining möglich
Grundsätzlich geht es darum, bei Intensiv-Patienten in einem möglichst zeitigen Stadium durch Übungen die Bewegungsfähigkeit zu fördern und zu erhalten, bei Querschnittgelähmten hofft man, die Motorik wieder anbahnen können. Der fahrbare Roboter wird in der Unfallklinik direkt an spezielle Betten angedockt. Er lässt die Frühmobilisierung selbst bei bewusstlosen, voll beatmeten Menschen oder Ecmo-Patienten zu; bei diesen kam er bisher in drei Fällen zum Einsatz. Ohne das Assistenzsystem bräuchte es dafür jede Menge Personal.
System entlaste die Pflegekräfte
Noch sammelt ein speziell geschultes Team aus Physiotherapeuten und Pflegekräften Erfahrung mit dem Roboter, hinter dem ein Münchner Start-up steht, lotet aus, bei welcher Gruppe Patienten sich die Anwendung am meisten auszahlt. Klar ist: Er „entlastet die Pflegekräfte und hilft bei frühzeitiger Mobilisierung“, sagt Ahrens. Das überregional bedeutende Traumazentrum saß bereits früh bei der Entwicklung mit im Boot, wendete Vemo nach Angaben von Ahrens als erstes Hospital bei Querschnittpatienten an. „Wir testen es im Haus seit Oktober 2019“; vor gut einem Jahr wurde der Betrieb hochgefahren. Deutschlandweit sei das System noch nicht etabliert, sagt Ahrens. Sie geht davon aus, dass die BGU „am meisten Patienten mit diesem Gerät behandelt“ habe. Sie schätzt ihre Zahl auf 50 bis 60 und die der Behandlungen auf über 200. Es komme, sagt Bäumel, nur in wenigen Kliniken zum Einsatz.
Über 1000 Schritte in 30 Minuten sind möglich
Auch wenn der Roboter nicht zu zaubern vermag: „Die Idee dahinter ist: Mit Vemo kann man erreichen, was sich mit anderen Methoden nicht erreichen lässt“, sagt Bäumel. Viele Schritte nämlich – über 1000 seien in 30 Minuten „machbar“, sagt Ahrens. Es gebe Patienten, besonders jene an der Ecmo, die zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht gehen könnten, aber per Vemo Schrittbewegungen ausführen. „Sie erleben das positiv“, sagt Bäumel.

Bislang machte der Roboter in Einzelfällen Schwerbetroffenen Schritt für Schritt Beine. Nun geht man der Frage nach, „wie man diese Ressource Vemo möglichst effizient eingesetzt kriegt“, sagt Bäumel – damit möglichst viele Patienten profitieren. Auf der anderen Seite bedeutet auch diese Frühmobilisierung, die eine Pflegekraft vorbereiten und wieder abbauen muss, einen gewissen zeitlichen und personellen Aufwand.
Covid-Patient mittlerweile aus der Klinik entlassen
Zurück zum 53-jährigen Covid-Patienten, den die Ecmo am Leben hielt: Ende Dezember lief bei ihm die Mobilisierung mit dem Vemo-System an. Nach BGU-Angaben stabilisierte sich seine Lungenfunktion, er wurde Anfang Januar von der Ecmo, dem Ersatzverfahren, entwöhnt. Das Phänomen, dass er sich nicht mehr selbst bewegen konnte, habe sich zurückgebildet. Vor Wochen wagte der Patient die ersten Stehversuche vor dem Krankenbett. Mittlerweile wurde er aus der Klinik entlassen – und befindet sich auf dem Weg der Genesung. Schritt für Schritt.
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