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Spezln wollen alte Bob-Bahn wieder aufbauen

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So könnte es aussehen: Beim Nostalgie-Rennen im schweizerischen Kandersteg brettern mutige Burschen auf dem Holzbob den Eiskanal runter. © fkn

Garmisch-Partenkirchen – Es ist ein kühnes Projekt: Ein paar Männer aus Garmisch-Partenkirchen wollen die legendäre Olympia-Bobbahn am Rießersee wieder in Schuss bringen – für ein Nostalgie-Rennen und mehr.

Rolf Lehmann, 59, rammt eine rosa Schaufel in den Schnee, immer wieder, er schaufelt, schaufelt, schaufelt. Und kommt so seinem Traum immer näher. Als könnte er ihn finden, irgendwo unter dem ganzen Schnee. Lehmann steht auf historischem Boden: in der Bayernkurve der alten Olympia-Bobbahn, die sie vor 100 Jahren hier in den Berg gepflügt haben, beim Rießersee im Kreis Garmisch-Partenkirchen. Lehmann verharrt kurz, sieht hoch und lässt den Blick über die Bahnrille schweifen, die sich zwei Meter breit den Berg hinunterschlängelt. „In zwei Wochen“, sagt er, „fahren sie genau hier durch.“ Es klingt wie eine Prophezeiung. So als könne er schon sehen, wie die alten Holz-Bobs um die Kurve schneiden.

Lehmann ist nicht allein. Sie sind ein gutes Dutzend, er und die anderen Bob-Verrückten. Was sie planen, ist nicht weniger als kolossal. Sie wollen die alte Bahn wieder aufbauen. Zum Spaß. Nach einem halben Jahrhundert Bob-Brache. Für ein Rennen, so wie früher. Ganz früher. Seit 1966 ist niemand mehr hier gefahren, weil damals die Zeit der Beton-Bahnen anbrach. Aber die Ära davor: Legende. Vogelwilde Rennen. Die Winterolympiade 1936, Europameisterschaften, die Weltmeisterschaft. Triumphe und Tragödien, alles ganz eng beieinander. Großer Sport. Und dem wollen sie huldigen. Am 4. Februar soll die große Sause starten. Zwei Wochen soll die Bahn für Hobby- und Sportfahrer öffnen, am 16. Februar ein Nostalgie-Rennen stattfinden. Wenn sie genug Schnee haben.

998 Meter Strecke müssen sie für all das präparieren, hunderte Tonnen Schnee verbauen. Kurven fräsen, Kanten klopfen, die Bahn walzen, mit der Schaufel plattdrücken. Am Schluss muss man das alles noch mit Wasser abspritzen und vereisen. Das macht die Bahn schnell. Das wäre die Kür. Der Schokoguss auf einer riesigen Kugel Vanille-Eis. Lehmanns Traum. Und dafür schaufelt er jetzt wie ein Weltmeister. Auch wenn er bisher noch nicht mal einen Bob hat.

Es ist kalt an diesem Tag, die Sonne schafft es kaum über die Berge. Im Wald ist es ruhig, bis auf dieses eine Geräusch, dieses Patsch, Patsch, Patsch. Von den zwölf Männern, die Lehmann sonst helfen, sind heute nur vier gekommen. Keiner davon ist jünger als 50 Jahre. Im Akkord schaufeln sie Schnee, verstreichen ihn und klopfen ihn mit Schaufeln platt. Patsch, patsch, patsch. Seit acht Uhr morgens. Als hätten sie in ihrem Leben nie etwas anderes getan.

Lehmann, gelernter Bankkaufmann und ehemaliger Hobby-Bob-Fahrer, holt aus und spaltet einen Brocken gefrorenen Schnees. Er sagt, im November hätten sie schon mit der Arbeit begonnen. 500 Meter Bande haben sie gezimmert und befestigt, kilometerweise Wasserleitungen verlegt. Ein Herkules-Projekt. Lehmann ist so etwas wie der Polier, der Bauingenieur und Architekt in einer Person. Er sagt, wo noch eine Schneekante zu viel ist. Er sagt, wann Mittagspause gemacht wird. Er sagt, wann es am nächsten Tag weitergeht.

Ein paar Meter hinter Lehmann stehen zwei seiner Männer, frostsicher verpackt in dicken Jacken und Schneehosen. Ihre Schaufeln stecken im Schnee, die Männer lassen ihre Arme baumeln. Kurzes Päuschen. Ein ganz kurzes. „Jungs, ihr werd’s ned fürs Rumsteh’ zoid“, ruft Lehmann rüber. Die Männer drehen sich um, einer erwidert: „Und du ned fürs Redn!“ Alle lachen. Auf den Mund gefallen ist hier keiner. Und ein bisserl Flax ist gut für die Stimmung. Schließlich ist man ja nicht im Arbeitslager. Aber es braucht halt einen, der den Überblick bewahrt. Lehmann geht in die Hocke, hält sich den Stiel seiner Schaufel vor das Gesicht und peilt damit die langgezogene Kurve vor ihm an. „Schaut gut aus“, sagt er.

Bis vor ein paar Tagen sah überhaupt nix gut aus. Die Männer waren zwar alle da, aber der Schnee nicht. Zu warm. Alles grün. Eine Katastrophe. „Wir hatten schon ein Viertel der Bahn fertig präpariert“, erzählt Lehmann. Und dann schmilzt die ganze Arbeit den Berg runter. Einfach so. Wusch und weg. Vorige Woche kam der Schnee zurück – die Arbeit ging wieder von vorne los.

Die Bayernkurve, an der sie gerade arbeiten, ist berüchtigt. An dieser Stelle wurde nicht nur über Sieg und Niederlage entschieden, sondern auch über Leben und Tod. „Vier Fahrer starben hier, weil sie aus der Kurve flogen“, sagt ein Baumeister. Einer der Opfer war der Schwede Rolf Odenrick. 1951 war das. Tragische Geschichte. Odenrick lenkte einen Vierer-Bob. Mit zwei Seilen, die er sich um die Hände wickelte. Viel zu oft um die Hände wickelte. Als der Bob verunglückte, konnten alle seine Mitfahrer rechtzeitig abspringen. Odenrick nicht.

So ein Unfall ist beim Nostalgie-Rennen aber ausgeschlossen. Erstens, weil da nur Bobs mit Lenkrädern fahren. Und zweitens, weil es nicht um die beste Zeit geht, sondern um den Traum. Auch wenn Lehmann und seine Spezln im Grunde gar nicht so genau wissen, wie schnell die Bobs werden. Es fehlen die Erfahrungswerte. So wie generell bei dem ganzen Unternehmen.

„Früher“, sagt Rolf Lehmann, „haben Maurer aus dem Ort diese Kurve gebaut.“ Die Arbeiter, die im Winter alle stempelten, schnitten mit Handsägen Eisblöcke aus dem Rießersee und karrten sie mit Pferdefuhrwerken den Berg hoch. Um die 15 000 Eisblöcke wurden dann mit Schneematsch verspachtelt, zu einer Kurve zusammengeklebt und geschliffen. Ein Monat Knochenarbeit hieß das. Die Garmischer Maurer hatten diese Technik erfunden. Sie war weltweit einzigartig.

Heute weiß keiner mehr, wie das geht. Mit den alten Maurern starb auch das Wissen. Auf der anderen Seite bleibt Lehmann und seiner Truppe so auch eine Heidenarbeit erspart. Die Gemeinde stellt ihnen Schnee aus dem Eisstadion zur Verfügung. Zwei Arbeiter vom Bauhof fahren jeden Tag Eisabrieb den Berg rauf. Tonnenweise. Doch auch wenn sie heute nicht mehr die Blöcke per Hand verladen und die Pferde rauftreiben müssen – Bahnbauen ist anstrengend.

Die Hälfte der Kurve ist inzwischen fertig. Auch viele der Rießerseer Baumeister. Im Fünf-Minuten-Takt fragen sie sich jetzt untereinander, wie spät es denn schon sei. Alle meinen die Mittagspause, das Essen, die Pause im Warmen. Aber niemand will das so direkt sagen. Dafür sind sie zu stolz. Keiner will schlappmachen. Sie sind schon ein witziger Haufen. Und Lehmann treibt sie weiter an. Ein bisserl noch. Auf geht’s.

Viele seiner Helfer sind wie Lehmann selbst Mitglieder im örtlichen Sportverein. Andere haben sich auf eine Annonce in der Zeitung hin gemeldet. Dieter Kirschner zum Beispiel. Stammt eigentlich aus Leipzig, war 20 Jahre lang S-Bahn-Fahrer in München. An seinem ersten Rentner-Tag rief er gleich bei Lehmann an. Er sagt: „Weißes Loch ist besser als schwarzes Loch.“ Damit meint er, dass Bob-Bahn-Bauen im Schnee besser ist als ein Tag im Warmen vor der Glotze.

Ein anderer Helfer ist Bernhard Ostler. Der 52-Jährige ist der Sohn des Grainauers Anderl Ostler, einer der Großen aus der Bob-Szene. Anderl Ostler gewann 1952 in einem 17 Jahre alten Zweier-Bob olympisches Gold in Oslo sowie Gold im Vierer-Bob.

Legendär ist das auch, weil Ostler, selber ein Brocken von Mann, kurz vor dem Rennen ein paar erfahrene Mitfahrer austauschte. Die neuen Fahrer zeichneten sich vor allem durch eines aus: Leibesfülle. Und je schwerer, desto schneller. Altes Bobfahrer-Gesetz. Stolze 472 Kilogramm wog das Quartett. Wenig später erließ der internationale Bob-Verband eine Gewichtsobergrenze für Vierer-Bobs. Der Film „Schwere Jungs“ des Haushamer Regisseurs Marcus H. Rosenmüller ist davon inspiriert.

Bernhard Ostler erzählt, dass er trotz des berühmten Vaters mit Bob-Sport eigentlich nie viel am Hut gehabt hat. Aber die Gelegenheit, die alte Bahn seines Vaters wieder herzurichten, die lasse er sich nicht entgehen. „Jetzt will ich auch noch mal runterfahren“, sagt er.

Es ist Mittag auf der Bob-Bahn-Baustelle. Endlich. Lehmann gibt Handzeichen. Er und seine Kameraden machen Pause in der „Kantine“. Das ist eine alte Holzhütte, neben der Zielgeraden der Bahn. Dort wurden früher schon die Bahnarbeiter verköstigt. Sie moderte lange Jahre vor sich hin, bevor sie der SC Riessersee wieder aufgebaut hat. Die Decken sind niedrig, das Holz knarzt bei jedem Schritt. In der Mitte des Raumes bullert ein alter Holzofen. An den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Fotografien, die die damaligen Arbeiter an der Bahn zeigen. Hier war es auch, wo Lehmann und ein paar seiner Freunde auf die Idee zu dem Projekt kamen. Während einer dieser langen Abende, die sie hier oft haben.

Auf einem Tisch stehen Fleischpflanzerl mit Kartoffelpüree. Genau das Richtige. Das in Sichtweite liegende Hotel Riessersee, das das Projekt auch finanziell absichert, liefert jeden Tag das Essen. Gratis.

Die Männer ziehen sich ihre Jacken aus und setzen sich hin. Sie reiben sich ihre Händer, die Gesichter sind rot von der Kälte. Lehmann erzählt, dass sie vorigen September in der Schweiz waren. „Dort steht die einzige NaturBobbahn der Welt“, sagt er. Und dort haben sie sich Tipps geholt. In ein paar Tagen fahren sie noch mal hin und holen sich auch alte Holzbobs. Fürs Nostalgie-Rennen. Den Bobsport am Rießersee wiederzubeleben, dafür wird ihre Arbeit wohl nicht reichen. Seit einigen Jahren schon hat die Bobsparte des SC Riessersee keine Fahrer mehr. Zu teuer die Mieten in den modernen Bob-Centren wie in Innsbruck. Zu groß der Aufwand, regelmäßig dort zu trainieren. Zu gering das Interesse bei den Jungen.

Und trotzdem. In einer halben Stunde werden sich Lehmann und seine Männer wieder ihre Jacken anziehen, den Berg hochmarschieren und weiter schaufeln. Bis es dunkel wird. Auch wenn manchen die Knochen schmerzen. Bis zum 4. Februar muss alles fertig sein. Rolf Lehmanns Traum macht verdammt viel Arbeit.

Von Patrick Wehner

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