„Unglücklich gewählt“ sei freilich die Inschrift „Wir waren Juden. Das war unsere Schuld“ auf dem Mahnmal, das in den 50er Jahren nahe des Lechs platziert worden war, fand Alexandra Senfft. Ebenso wie Menschen würden auch Orte und Landschaften die Erinnerung weitertragen. Dazu gehöre auch Seestall als Teil des KZ-Außenlagers Kaufering. 22 Ermordete liegen hier begraben.
Der dritter Bürgermeister der Gemeinde Fuchstal Dr. Walter Reitler aus Seestall zeigte auf, welche Kontakte es 1944/1945 zwischen Gefangenen und einheimischer Bevölkerung gab. Manchen aus Seestall und anderen umliegenden Ortschaften sei das Schicksal egal gewesen und hätten die Juden abgelehnt. Viele Dorfbewohner hätten jedoch Mitleid mit den ausgemergelten Menschen empfunden.
Reitler, der sich in der Heimatforschung engagiert, berichtete von Frauen, die Häftlingen Brot und Kartoffeln zusteckten. Aus Asch sei überliefert, dass die Frau des Arztes damals zusammen mit einer Freundin den Juden beim Marsch zum Bahnhof Medikamente zugeworfen hätte. Auch übermittelten Zeitzeugen, wie der Lagerkommandant einer Bäuerin, die helfen wollte, scharfzüngig den Ausspruch „Dachau ist nicht weit weg“ zugerufen hätte.
Wo sich heute die KZ-Gedenkstätte bei Seestall befindet, war früher der Schindanger des Dorfes. Hier wurde damals das verendete Vieh verscharrt. Auch wurden dort Menschen begraben, die es aus Sicht der Leute nicht wert waren, ein christliches Begräbnis zu erhalten. Die Symbolik, so ergänzte Reitler, sei eindeutig: Verachtung und Erniedrigung sollten über den Tod hinaus gehen. Um so wichtiger sei es, dass heutzutage der Opfer in Würde gedacht werde.
Die Historikerin Dr. Edith Raim schilderte das ergreifende Schicksal eines jüdischen Häftlings, der 1925 in Lodz in Polen geboren wurde, im KZ Dachau die Selektion überlebte, 1944 nach Kaufering kam und im Außenlager Seestall inhaftiert war. Von dort konnte er zwar am 5. Oktober 1944 fliehen, wurde später aber vermutlich im Raum Landsberg wieder aufgegriffen. Im Dezember 1944 fand man ihn erhängt auf. Niemand wisse, ob er sich selbst das Leben genommen hatte oder ob er ermordet wurde, schilderte die Lehrbeauftragte für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Augsburg Dr. Raim.
Dr. Jascha März – er leitet den Bereich wissenschaftliche Dienste und Archiv bei der Stiftung Bayerische Gedenkstätten – stellte den „regionalen Bezug“ heraus. Eine Gedenkstätte wie in Seestall solle mehr als nur Information vermitteln, sondern sei als „fortlaufendes Projekt“ zu bewerten. Gedenkkultur müsse wieder sichtbar werden. Solche Orte wolle man nicht stumm bleiben lassen, warb März bei Kommunalpolitkern und Bürgern umliegender Gemeinden um Unterstützung.
Bei der Gedenkfeier, die von der Münchner Sängerin Irina Firouzi mit drei besinnlichen Liedern gestaltet wurde, ergriff auch Ernst Grube von der Lagergemeinschaft Dachau das Wort. Es sei „überfällig“, die Verbrechen zu dokumentieren, sagte er. Grube zeigte das Schicksal der eigenen Familie auf. Er wurde im Februar 1945 ebenso wie seine Mutter und zwei Geschwister aus dem Ghetto in Theresienstadt befreit. Doch wäre die Suche nach drei weiteren Schwestern äußerst zermürbend gewesen. Auch sein Onkel Siegfried hatte eine dreijährige qualvolle Odyssee hinter sich; er musste bei Bauarbeiten Sklavenarbeit leisten, ehe er im Lager Kaufering II zu Tode kam.
Ernst Grube, Zeitzeuge und NS-Verfolgter, ist mittlerweile 89 Jahre. Der gebürtige Münchner, ein beständiger Mahner gegen Verbrechen, erklärte abschließend zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine: „Wir brauchen Deeskalation und Abrüstung auf allen Seiten.“ Die Aufrüstung sei kein Weg zur Friedenssicherung.
Schließlich zogen die Teilnehmer der bewegenden Gedenkfeier von den zwei Informationstafeln (mit deutscher und englischer Erklärung) zum Mahnmal am Lech. Dort legte jeder eine Blume nieder. Auf die angekündigte Kranzniederlegung wurde verzichtet. Die Gemeinde Fuchstal möchte stattdessen einen Betrag an die Ukraine-Hilfe überweisen.