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Der Schatten des Begehrens

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Dunkelfelder: Ein Erwachsener und ein Kind werfen einen Schatten auf den Asphalt. Jeder hundertste Mann soll pädophile Neigungen haben. © dpa

Sie werden geschult, nie zum Täter zu werden: Bei einem neuen Projekt sollen Pädophile lernen, mit ihren Neigungen umzugehen, ohne sie jemals auszuleben. Die Initiative zielt auf einen äußerst sensiblen Bereich: Jeder hundertste Mann soll sich angeblich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen.

Max Webers* Herz beginnt zu rasen, wenn er an den Sommerurlaub an der Ostseeküste denkt. Wie die Mädchen im Sand spielen, die Sonne auf ihrer Haut glitzert. Er will wegschauen, schafft es aber nicht. Die Mädchen, die ihn in Aufregung versetzen, sind zu jung. Viel zu jung.

„Diese Neigung ist schon zum Kotzen“, sagt Max Weber heute. Seit den Ferien an der Ostsee vor einigen Jahren wünscht er sich, mit Mädchen von fünf bis zehn Jahren intim zu werden. Als er einem Therapeuten davon erzählt, sagt der bloß: „Schaffen Sie sich eine Freundin an, dann ergibt sich das von alleine.“ Aber die Sehnsucht bleibt. Am Schluss denkt Weber an Selbstmord.

Max Weber, 26, Student aus dem Osten Deutschlands, ist pädophil. Als ihm die eigenen Fantasien ungeheuer wurden, er aber nicht zum Ungeheuer werden wollte, griff er zum Telefonhörer. Über 1000 Männer haben in den vergangenen fünf Jahren wie Weber die Nummer 030/45 05 29 450 gewählt. Am anderen Ende der Leitung: ein Therapeut des Präventionsprojekts „Kein Täter werden“.

An der Berliner Charité erhalten Männer seit 2005 anonym Hilfe, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen und befürchten, dass sie sich eines Tages an einem Kind vergreifen. 2009 eröffnete eine Ambulanz in Kiel, seit diesem Herbst gibt es eine weitere am Uniklinikum in Regensburg.

Buben erregen ihn - das wird sich nie ändern

Pädophilie ist in Deutschlands ein Tabu. Wer die Neigung in sich spürt, ist oft hilflos und meist auf sich allein gestellt. Auf die Titelseiten schafft es nur das Thema Kindesmissbrauch. Kaum ein Delikt löst mehr Abscheu aus. „Sexmonster“ oder „Bestie“ titelt dann der Boulevard. Die Forschung schätzt, dass ein Prozent aller Männer pädophil orientiert ist – das wären in Deutschland 300 000 Personen. Der Anteil pädophiler Frauen ist verschwindend gering. Pädophile haben sexuelle Neigungen gegenüber Kindern oder Jugendlichen in der Frühpubertät. In der Adoleszenz manifestiert sich, wie ein Mensch sexuell ausgerichtet ist.

Marco Kuhn* weiß seit der Pubertät, dass er anders ist. Mit 16 verliebte er sich das erste Mal in ein Kind. Seine Klassenkameraden gingen in die Disko, er guckte Kinderfilme. Kuhn hat viele Jahre gewartet. Gewartet, dass die Fantasien verschwinden. So wie es die Therapeutin versprochen hatte. „Man sagt sich, die Frau versteht etwas von ihrem Beruf und wird Recht haben. Andererseits spürt man, dass es so einfach nicht sein wird“, erinnert sich Kuhn. Mit 18 kommt er für zwei Jahre wegen Depressionen in eine Klinik.

Kuhn, mittlerweile ein Mittdreißiger mit aschblondem Haar, hat als Erwachsener nie ein Kind sexuell belästigt. Aber Buben erregen ihn noch immer. Und er weiß: Das bleibt, das wird sich nie ändern. 2004 gründet Kuhn deshalb den Verein „Verantwortung für Kinder“, später noch die Homepage „Schicksal und Herausforderung“. Anlaufstellen, an die sich pädophile Männer wenden können, die Sex mit Kindern strikt ablehnen.

„Die Neigung wird mit der Tat gleichgesetzt"

Um anderen Männern helfen zu können, gibt Kuhn viel von sich und seinem Intimleben preis. Im Internet kann man lesen, dass Kinderpornos und Nacktfotos für ihn tabu sind. Dass es aber okay sei, den Quelle-Katalog mit den kleinen Buben in Unterwäsche zu nehmen, um zu onanieren. Aber es bleibt bei einer lebenslangen Enthaltsamkeit – aus Überzeugung.

Die Ursachen der Pädophilie noch ein Rätsel. „Wer erklären kann, wie Pädophilie entsteht, ist ein Kandidat für den Nobelpreis“, sagt Prof. Klaus Michael Beier, Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité. Konsens ist, dass Pädophilie als eine Sexualform gilt, die nicht frei wählbar ist – genauso wenig wie Hetero- oder Homosexualität. Pädophilie ist eine Störung, die durch ein komplexes Zusammenspiel biologischer und psychosozialer Faktoren bestimmt ist.

Doch es mangelt nicht nur an adäquater Forschung: „Diagnostik und Behandlung von Pädophilie sind weder Gegenstand einer Facharzt- oder Fachtherapeuten-Ausbildung, noch in den Leistungskatalogen der Krankenkassen adäquat aufgenommen“, sagt Beier. „Beides muss sich ändern, wenn man die primäre Prävention sexueller Übergriffe und damit den Kinderschutz konsequent angehen will.“ Denn viele Ärzte und Therapeuten weisen Menschen wie Weber oder Kuhn ab oder lassen Adressen von Bewährungshelfern heraussuchen – Bewährungshelfer für Kinderschänder. Das sei das Problem: „Die Neigung wird mit der Tat gleichgesetzt, was all denen nicht gerecht wird, die noch gar keine Tat begangen haben und selber Hilfe suchen, um eine solche zu verhindern“, meint Beier. Darum gehe man bei „Kein Täter werden“ einen anderen Weg. Die Grundidee: Aus Fantasien dürfen keine Taten werden – dann gibt es auch keine Opfer. Ein schmaler Grat.

"Man versinkt darin auf Nimmer Wiedersehen“

Andreas Seidel* hat sich nicht immer als Täter gesehen. Schwankte hin und her zwischen seinem sexuellen Verlangen und seinem Gewissen. Kinderpornos im Internet schauen, das machen doch alle, die so fühlen wie er, bildete sich der Versicherungsfachangestellte damals ein. Erst wenn er anfangen würde, einen Missbrauch zu planen, wollte er sich Hilfe suchen. Doch es kommt ganz anders.

Um 6 Uhr morgens donnert es eines Tages an seiner Wohnungstür. In seinen Träumen hat Seidel die Szene schon mehrfach durchlebt, mindestens genauso oft, wie ihn die traurigen Blicke der Mädchen aus den Filmen verfolgt hatten. Die Polizisten durchsuchen jede Schublade, nehmen alles mit, worauf verbotene Daten gespeichert sein könnten – und wünschen einen schönen Tag. Zurück bleibt ein Mann, der Monate braucht, um sich in der Wohnung wieder heimisch zu fühlen. Aber er hat nun auch begriffen, dass er Hilfe braucht.

Heute sagt Seidel: „Ich wünschte nur, ich hätte den Mut gefunden, den Schritt selbst zu vollziehen.“ Die erste Therapiestunde war ein Schock. „Es war, als würde der Boden unter den Stühlen zu Treibsand – und man versinkt darin auf Nimmer Wiedersehen“, erinnert sich Seidel. Dort erfahren die Patienten, dass sich die Veranlagung nicht einfach wegtherapieren lässt. „Die Männer müssen lernen, dass diese Neigung Schicksal ist und keine Wahl“, sagt Beier.

Als Kind missbraucht: Diese Zeit habe seine Seele getötet

Auch Max Weber wollte lange nicht wahrhaben, dass seine Fantasien, seine Neigungen nie wieder verschwinden werden. „Das sagen die, aber das muss ich ja nicht glauben“, redete er sich anfangs ein. Später stellte fragte er sich: Bin ich mit dieser Neigung überhaupt noch ein Mensch? In den Sitzungen sollen Männer wie er lernen, sich ohne schlechtes Gewissen in ihre Fantasien zurückzuziehen – ohne sie jemals auszuleben. Es werden Regeln aufgestellt, die das Leben erleichtern sollen. Die Patienten nehmen einen „Notfallkoffer“ mit aus den Gesprächen. Mit Verhaltensregeln etwa für den Fall, dass die Nachbarin darum bittet, auf den Sohn aufzupassen, weil sie einen Termin hat.

Erschwert wird die Therapie häufig durch Trugschlüsse der Patienten: Die Kinder wollen das, das mache ihnen doch Spaß, schließlich haben sie das auch mal erlebt – so lauten die gängigsten Ausreden. Weber rechtfertigte sein Verlangen nach Mädchenkörpern lange mit „einem verkappten wissenschaftlichem Interesse“, wie er sagt. Heute, nach 50 Sitzungen, schämt er sich dafür.

„Kein Täter werden“ ist kein Projekt, das überall nur Begeisterung auslöst. Norbert Denef, Autor der Autobiografie „Ich wurde missbraucht“, empörte sich in der ZDF-Talkrunde bei Johannes B. Kerner, dass schon der Slogan „Lieben sie Kinder mehr als ihnen lieb ist?“ eine Verhöhnung der Opfer sei. Der Staat solle die Steuergelder besser dafür verwenden, Opfern zu helfen. Als Kind wurde Denef über Jahre von einem Priester und einem kirchlichen Mitarbeiter missbraucht. Diese Zeit habe seine Seele getötet, sagt er heute.

„Ich habe mir nichts vorzuwerfen"

Der Verein „Innocence in Danger“, der sich gegen sexuellen Missbrauch von Kindern engagiert, unterstützt hingegen das Projekt. „In der Therapie wird den Tätern schließlich nicht über den Kopf gestreichelt, und gesagt, du armer, armer Täter, du kannst ja nichts dafür“, sagt Geschäftsführerin Julia von Weiler. Und: „Nicht jeder Pädophile missbraucht Kinder, und nicht jeder, der Kinder missbraucht, ist pädophil.“ Missbrauch müsse auf allen Ebenen bekämpft werden.

Nur wenn man Täterstrategien kennt, die Motivation der Täter begreift und Wege findet, sie von missbrauchendem Verhalten abzuhalten, kann es gelingen, sexuellen Missbrauch zu verhindern. Präsidentin des Vereins ist Ministergattin Stephanie zu Guttenberg, die zuletzt bei RTL II potentielle Kinderschänder in die Fernsehfalle lockte und dafür reichlich Kritik einsteckte. Beschimpft werden Menschen wie Weber, Seidel oder Kuhn aber nicht nur als Sexmonster oder Bestie, sondern auch als Verräter – oder als verklemmt. Von der „Krummen 13“ zum Beispiel, die offen für Sex mit Kindern wirbt. Dort wird aus der Unveränderlichkeit einer pädophilen Veranlagung eine Rechtfertigung für Sex mit Kindern. Seidel sagt dazu: „Natürlich habe ich Verständnis für die Situation, die Ängste, Belastungen, Probleme. Aber Ein-Verständnis mit dem Konsum von Missbrauchsdokumentationen oder gar sexuellem Kindesmissbrauch, niemals.“ Auch Kuhn betont: „Selbstverständlich muss man Pädophile bestrafen, sobald sie sich sexuell an Kindern vergehen, da darf es keine falsch verstandene Toleranz geben.“ Solange sie aber gewillt seien, mit ihrer Neigung verantwortungsbewusst umzugehen, verdienten sie eine faire Chance und sollten behandelt werden wie jeder andere Mensch auch.

Marco hat die Hoffnung in all den Jahren nicht aufgegeben. Die Hoffnung auf ein Leben ohne gesellschaftliche Tabuisierung. Lieber heute als morgen würde er sein Synonym ablegen. „Ich habe mir nichts vorzuwerfen und werde mir auch niemals etwas vorzuwerfen haben.“ Marco nennt sich im Internet nach einem kleinen Jungen, in den er mal verliebt war.

(* Name geändert)

Von Katharina Blum

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