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In einem Film sprechen Zeitzeugen über die Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Einer verbrachte seine Kindheit im ehemaligen KZ Dachau - als dort Familien in Wohnungen lebten.
– Jean Böhme wuchs an einem Ort auf, wo Jahre zuvor Hunderttausende unvorstellbares erlitten. Der heute 72-Jährige wohnte mit seinen Eltern während seiner Kindheit im ehemaligen Konzentrationslager Dachau. Als Fünfjähriger war ihm freilich nicht klar, um welch schreckliche Historie das Lager hatte. „Nur die Erwachsenen sagten immer, da darf man aus Pietätsgründen doch nicht wohnen.“
Böhme ist einer von neun Zeitzeugen, die im Dokumentarfilm „Neun. Erinnerungen an bewegte Zeiten“ berichten von ihrer Kindheit in der End- und Nachkriegszeit. Die fünf Männer und vier Frauen wohnen heute alle in und um Haar, wo der Film am morgigen Mittwoch um 19.30 Uhr in der Volkshochschule gezeigt wird.
„Wäre jammerschade, wenn Erinnerungen auf Festplatte verstauben würden“
Im August 2016 führte Michael von Ferrari sein erstes Zeitzeugen-Interview mit der ältesten Freundin der Mutter. Es war das erste von 40 Gesprächen. Als von Ferrari immer mehr Menschen über ihr Leben befragt hatte über die Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, sprach ihn 2017 Kirsten Althof an. Ob er denn nicht Interesse hätte, mit ihr einen Film aus diesen Interviews zu machen, wollte die Medienfachfrau. „Es wäre jammerschade, wenn die Erinnerungen an diese bewegten Zeiten auf der Festplatte meines PCs verstauben würden“, sagt der 61-Jährige, der bis vor ein paar Jahren Umweltreferent der Gemeinde Haar war.
Viele der Interviews haben sie vor der Kamera wiederholt, neun fanden Platz im 70-minütigen Film. Gezeigt wurde er bereits zwei Mal in Trudering, der Gemeindesaal der Friedenskirche war an beiden Tagen restlos gefüllt. Vor allem die anschließende ausgiebige Diskussion mit Zeitzeugen zeigte das große Interesse an der Thematik.
„Erst da merkten wir, was der Psychopath Hitler alles angerichtet hatte.“
Vieles kennt man aus dem Geschichtsunterricht, möchte man sagen. Hitlers Machtergreifung, Reichspogromnacht, Kriegsende. Aber es ist ein gewaltiger Unterschied, wenn eine Frau wie Doris Götz (91) von ihrer „überaus fröhlichen und glücklichen Kindheit“ in Stuttgart erzählt, „der Krieg, Hitler, KZs – das war so weit weg von uns“. Bis Stuttgart am 12. September 1944 durch die britische Luftwaffe mit tausenden Brand- und Sprengbomben fast komplett ausradiert wurde. Eine Vergeltung für Hitlers Angriffe auf London. „Ich fand danach meine völlig verkohlte Oma und einige tote Freundinnen“, erinnert sich Götz, die heute in Trudering lebt. „Erst da merkten wir, was der Psychopath Hitler alles angerichtet hatte.“
Rudolf Reichelt (91) wohnt schon lange in Haar, geboren wurde er in Prag, wuchs im heutigen Tschechien ohne Vater auf. Seine Mutter hasste die Nazis, stieß einen rotzfrechen HJler die Treppe hinunter, daraufhin wurde sie verhaftet und der halbwüchsige Rudolf kam in ein Heim. Später erlebte er die Bombardierungen von Dresden mit Phosphorbomben, „wir hatten alle unglaubliche Todesangst, doch da half jeder jedem in dieser Not, egal welche Nationalität – wir waren doch alle Menschen“, erinnert sich Reichelt. So ein Helfer war auch Fritz Strauß (90). Er wurde zwei Mal bei Bombenangriffen in München verschüttet und überlebte beide mit knapper Not. Er rettete einem Freund und seiner Schwester das Leben.
Jean Böhme wurde nach Kriegsende in Besancon geboren. Der Deutsch-Franzose zog mit fünf Jahren mit seiner Mutter zum deutschen Vater. „Habe eine nette Wohnung für uns gefunden – ihr könnt kommen“, hatte der 1952 nach Frankreich geschrieben. Die Franzosen waren froh, eine Frau, die sich mit einem Wehrmachtssoldaten eingelassen hatte und deren Sohn loszuwerden. „Was mein Vater nicht geschrieben hatte: Die nette Wohnung befand sich mitten im ehemaligen KZ Dachau“, berichtet Böhme. „Für mich als Kind hatte der Ort ja kein Schrecken, es war gut dort, es gab viele Freunde, eine Schule, eine Kirche, einen Sportplatz, viele Kneipen, einen Puff und zahlreiche Geschäfte.“ Bis 1955 lebten er und Hunderte Heimatlose im KZ.
Die neun Zeitzeugen erzählen im Film von wegweisenden Momenten ihrer Kindheit und Jugend in der Endkriegs- und Nachkriegszeit, erinnern sich an Kurioses, Bedrückendes, Alltägliches, Menschliches. Neun normale und zugleich besondere Menschen dokumentieren in ihren Interviews eindrucksvoll die Kraft des Überlebens. Sie gehören zu den Letzten, die mit dem Zweiten Weltkrieg direkt in Berührung kamen. Ihnen gilt es zu zuhören, denn sie haben nachfolgenden Generationen Wesentliches zu sagen. „So etwas, darf sich nie mehr wiederholen – mich wundert es daher schon, wie die Rechten überall Zulauf bekommen“, schüttelt Rudolf Reichelt auf der Bühne den Kopf.
Filmvorführung
Am Mittwoch, 13. November, wird der Film ab 19.30 Uhr in der VHS Haar gezeigt, einige Zeitzeugen sind für eine anschließende Diskussion anwesend.