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Flachsröste in Lohhof: Eine Ex-Zwangsarbeiterin erzählt ihre traurige Geschichte

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Von: Charlotte Borst

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Ort des Grauens: die Flachsröste in Lohhof.
Ort des Grauens: die Flachsröste in Lohhof. © Repro: Flachs und Reich

In der Flachsröste von Lohhof litten Zwangsarbeiter unter den Nazis. Eine von ihnen ist Judy Rosenberg. Sie überlebte Zwangsarbeit und Holocaust. Das ist ihre Geschichte.

Unterschleißheim – Viele Jahre hat Judy Rosenberg (92) nicht darüber gesprochen, was sie in Deutschland erlebt hat. Das war tief in ihrem Inneren verschlossen. Heute lebt die 92-Jährige in einem Altenheim in Montreal, Kanada. „Ich habe nicht darüber geredet, weil es keinen interessiert hat. Die Menschen hier wussten nichts von all dem. Viele stammen aus kleinen Ortschaften.“

Judy Rosenberg spricht fließend Deutsch. Ihre Stimme klingt jung und kraftvoll. „Ich war verbittert und traurig.“ Ihrem Enkel verdankt sie, dass sie heute über ihre Vergangenheit sprechen kann.

Flachsröste Lohhof: Schüler haben die Holocaust-Überlebende getroffen

Drei Schüler des Carl-Orff-Gymnaisums haben Judy Rosenberg getroffen und ihren Lebensweg recherchiert (siehe unten). Als die herzliche alte Dame so alt

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Die Zeit vor der Zwangsarbeit: Judith Hirsch und ihr Freund Erwin Weil an Ostern 1942. © Repro: Flachs und Reich

war, wie die drei 17-Jährigen heute, wurde sie in der Lohhofer Flachsröste zu schwerer Zwangsarbeit herangezogen. Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt ein fröhliches Mädchen mit den braunen Locken im Arbeitskittel. Das war 1942. Judy Rosenberg hieß Judith Hirsch.

Wenige Monate nach der Aufnahme legte sie täglich einen beschwerlichen Fußweg von Berg am Laim  zur Flachsröste nach Lohhof zurück, wo Garn für die Kriegsproduktion hergestellt wurde. Bis zum Hauptbahnhof musste sie zu Fuß gehen, denn Juden war das Trambahn-Fahren untersagt. Dann ging es mit dem Zug weiter. An ihren Freund Erwin Weil schreibt Judith Hirsch damals: „In Lohhof ist es furchtbar. Ich bin jetzt außer meiner Arbeitszeit noch 5-6 Stunden unterwegs. Abends falle ich grad ins Bett, so müde bin ich. Hoffentlich dauert es nicht mehr allzu lange, denn lang kann ich es nicht mehr mitmachen.“

Mit ihren Eltern und ihrer Schwester war sie 1939 von Karlsruhe nach München gezogen, wo sie am 12. März 1927 geboren worden war. Das Sportartikelgeschäft, das ihr Vater mit seinem Burder, dem Fußballnationalspieler Julius Hirsch, führte, war in der Progromnacht zerstört worden. Ihr Vater Max und ihre Mutter Lina, eine Protestantin, lebten in „Mischehe“. Judith und ihre Schwester Ruth galten als „Mischling“. In München fanden die Eltern Arbeit als Hausmeister in der Israelischen Privatklinik, wo sie auch wohnten.

Flachsröste Lohhof: „Niemand hielt es auf. Niemand schaute hin. Niemand stellte Fragen“

Die Familie musste Anfang Juni 1942 miterleben, wie die Klinik und das Schwesternheim geschlossen wurden. Patienten und Krankenschwestern wurden in einem Möbeltransporter mitgenommen. „Niemand hielt es auf. Niemand schaute hin. Niemand stellte Fragen“, erinnert sich Judy Rosenberg. Auch viele ihrer Freunde aus dem jüdische Kinderheim in Schwabing, wo sie in der Küche arbeitete, wurden deportiert und kehrten nie zurück. „Weil ich eine Halsentzündung hatte, war ich nicht im Haus, sie fanden mich nicht.“

Nach der Schließung des Kinderheims zog Judith Hirsch in das Lager Berg am Laim und wurde mehrere Jahre zur Zwangsarbeit verpflichtet. Am 22. Februar 1945, kurz vor Kriegsende, wurde sie und ihr Vater nach Theresienstadt deportiert. „Wir hatten jeder einen kleinen Koffer gepackt und waren mit unseren gelben Judensternen an den Mänteln zum Bahnhof in München gegangen. Dort trafen wir einen Offizier, der sagte: Der Krieg ist vorbei. Das gab uns Hoffnung.“ Am 8. Mai 1945 wurde das KZ Theresienstadt von der Roten Armee befreit. Judith hatte überlebt.

Flachsröste Lohhof: Das Reden über das Erlebte half Judy Rosenberg

1954 wandert sie mit ihrem Mann und zwei Kindern nach Kanada aus. Erst 2005 wurde sie von einem Heimkind, Werner Grube, wiedergefunden. Sie kannten sich aus dem Kinderheim in Schwabing, wo Judith in der Küche gearbeitet hatte. Bald darauf kam eine erste Einladung nach Deutschland.

Ihr Enkel hatte an der Universität einen Kurs über den Holocaust belegt und forderte seine Großmutter auf: „Du musst darüber sprechen, was dir passiert ist,“ erzählt die 92-Jährige. „Das hat mir geholfen, meine Bitterkeit zu überwinden.“ Der Kontakt nach Deutschland hat das Leben von Judy Rosenberg verändert. Auch im Altenheim stößt ihr Engagement als Zeitzeugin auf großes Interesse: „Jeden Tag kommt jemand und fragt, wie war das damals? Kannst du Fotos mitbringen aus Deutschland?“

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COG-Schüler beeindruckt von Judy Rosenberg

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Treffen im NS-Doku-Zentrum: Die COG-Schüler Manuel Blaschke, Helen Haniel und Lorenz Bredl mit Judy Rosenberg, der - Holocaust-Überlebende aus Montreal. © Privat

Ein P-Seminar des Carl-Orff-Gymnaisums recherchierte Schicksale von Zwangsarbeitern und entwickelten mit Lehrer Manuel Weskamp einen multimedialen Erinnerungsweg. „Der Kontakt zu Judy Rosenberg hat mich sehr berührt, weil sie so ein fröhlicher, positiver Mensch ist“, erzählt die Gymnasiastin Helen Haniel (17). Zweimal haben die Schüler mit der Kanadierin telefoniert. Anfang Juni haben sie die 92-Jährige persönlich im NS-Dokumentationszentrum in München getroffen, wo sie als Zeitzeugin zu Gast war. Für Lorenz Bredl (17) war das P-Seminar „eine Empathieschulung“. Manuel Blaschke (17) hat erst durch die Auseinandersetzung mit der jüdischen Zwangsarbeit nachvollziehen können, wie die Situation für die Menschen war. „Es ist richtig, dass sich Unterschleißheim dieser Vergangenheit stellt“, findet er. Der Name Judith Hirsch wird einer von 462 Namen sein, die die Künstlerin Kerstin Zeitz in Stahlplatten hämmern wird. Sie werden den Weg vom Bahnhof Lohhof zum geplanten Denkmal säumen.

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