Der Kunstjäger der Nazis

München - Wie kommt ein Schwabinger an 1500 Kunstwerke im Wert von einer Milliarde Euro? Durch seinen Vater: Die Nazis machten Hildebrand Gurlitt zu einem ihrer wichtigsten Kunst-Experten.
Es beginnt im Sommer 1937, mit einer Rundreise von Adolf Ziegler durch Deutschlands Museen. Sie gleicht allerdings eher einer Einkaufs-Tour, nur dass der Präsident der „Reichskammer der Bildenden Künste“ nicht vorhat zu bezahlen. Ziegler hat von Propagandaminister Joseph Goebbels die Order, Werke der „Verfallskunst“ seit 1910 zu beschlagnahmen. 20 000 Bilder und Skulpturen, die die Nazis hassen – Avantgarde, Expressionismus, generell jüdische Künstler – werden aus den Museen entfernt. 600 von ihnen zeigt Ziegler in der Ausstellung „Entartete Kunst“ im Juli 1937 in den Münchner Hofgarten-Arkaden. Rund zwei Millionen Zuschauer besuchen sie, so die offiziellen Angaben. Später tourt die Schau durch Deutschland.
Aber wohin dann mit der ungeliebten Kunst? Zeigen darf man sie in

Deutschland nicht – sie könnte ja den Kunstgeschmack beeinflussen. Also versucht das Propagandaministerium, sie zu Geld zu machen. Vier Kunsthändler werden damit beauftragt, sie zu verkaufen – einer von ihnen ist Hildebrand Gurlitt. Ebenjener Vater des heute 80-jährigen Cornelius Gurlitt, in dessen vermüllter Schwabinger Wohnung die Polizei 1500 Bilder im Wert von geschätzt einer Milliarde Euro fand (siehe Kasten). Darunter Werke von Picasso, Matisse, Chagall, Nolde und Klee.
Ausgerechnet Hildebrand Gurlitt, möchte man meinen. Denn dieser Mann ist bei den Nazis alles andere als beliebt. Als Chef des König-Albert-Museums in Zwickau hat er sich in den 20er-Jahren für die Etablierung moderner Kunst eingesetzt, hat Werke von Max Pechstein, Käthe Kollwitz, Emil Nolde und Karl Schmidt-Rottluff gezeigt. Was für die Nazis noch schlimmer wiegt: Seine Großmutter ist Jüdin. Dieser Umstand kostet ihn ab 1933 den Posten als Direktor des Kunstvereins in Hamburg.
Trotzdem macht Goebbels den „Halbjuden“ zu seinem Experten fürs Versilbern. „Der Nationalsozialismus ist reich an solchen Widersprüchen“, sagt Christian Fuhrmeister vom Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte. „Man nahm im Zweifel doch die, die was davon verstanden – und die vernetzt waren.“ Denn der europäische Markt für moderne Kunst sei winzig gewesen, betont der Kunsthistoriker. „Gurlitt kannte sich da aus.“
Im Rahmen der „Verwertungsaktion“ soll Gurlitt die Werke aus den Museen entweder gegen Devisen verkaufen oder gegen „gewünschte Kunst“ tauschen, etwa deutsche Romantiker oder Altmeister. Die Galerie Theodor Fischer in Luzern bietet in einer Versteigerung am 30. Juli 1939 nicht weniger als 125 beschlagnahmte Spitzenwerke an.
Auch private jüdische Sammler geraten ins Visier der Kunsträuber. So muss etwa der Verleger, Galerist und Pferdezüchter Bruno Cassirer aus Berlin das Bild „Trabrennbahn“ von Max Slevogt verkaufen, um davon seine „Reichsfluchtsteuer“ bezahlen zu können. Dieser perfide Ausdruck bezeichnet die Teilenteignung jüdischer Bürger, die sich wie Cassirer durch Emigration der Verfolgung durch die Nazis entziehen wollen. Ab 1938 verlangen die Nazis von Juden außerdem „Vermögensanmeldungen“ – sie müssen alles angeben, was sie besitzen.
„Es ist eine einzige Verschiebe-Aktion in ganz Europa“, sagt Christian Fuhrmeister. „Ständig ist Kunst auf Reisen.“ Ein wichtiger Teil dieses Systems ist Hildebrand Gurlitt. Der Kunsthändler wird 1939 auch noch zum Chefeinkäufer für das von Adolf Hitler erträumte „Führermuseum“ in Linz – 1200 Kunstwerke sollen es zieren. Gurlitt kennt Kunsthistoriker in ganz Europa, die im Zweifelsfall wissen, in welchem holländischen Privathaushalt noch ein Rembrandt hängt. Auch jüdische Experten arbeiten ihm zu, sie werden zu „Kunstjuden“ erklärt, sind vom Tragen des gelben Sterns befreit, dürfen in Sachen Kunstraub sogar reisen.
Viele hundert Bilder eignet sich Gurlitt an, zu meist lächerlichen Preisen. Kunsthistoriker Fuhrmeister berichtet, für eine Grafik habe der Händler 2 bis 20 Reichsmark gezahlt, wohlgemerkt sei hier die Rede von der klassischen Moderne mit all ihren heute großen Namen. Bei Ölbildern, etwa Franz Marcs „Turm der Blauen Pferde“, gehe der Kaufpreis nicht über „mehrere hundert Reichsmark“ hinaus.
Bei der „Verwertungsaktion“ der Avantgarde bleiben wegen des kleinen Marktes trotzdem Werke übrig. Wie Gurlitt es schafft, 1500 Bilder in seinem Besitz zu behalten, ist freilich ungeklärt. Auch warum nach dem Krieg niemand auf Hildebrand Gurlitt aufmerksam wird, ist nicht völlig klar. Es gelingt ihm, sich im Rahmen der Entnazifizierung selbst als Verfolgter darzustellen. 1956 stirbt er bei einem Autounfall – seine Witwe Helene behauptet noch in den 60er-Jahren, alle Kunstwerke und Unterlagen ihres Mannes seien beim Feuersturm von Dresden verbrannt.
Heute bemühen sich zumindest die Museen, Archive und Bibliotheken stärker, Raubkunst in ihren Depots aufzuspüren. 1998 vereinbarten 44 Länder, auch Deutschland, in Washington „nicht bindende Grundsätze“ zum Umgang mit Raubkunst – also, sie nach Möglichkeit den legitimen Eigentümern zurückzugeben. Laut Auskunft der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen sind bislang etwa 400 Werke auf ihre „Provenienz“ hin untersucht und elf zurückgegeben worden.
Private Kunstsammler seien freilich nicht so freigiebig, sagt Ulli Seegers von der Universität Kassel. Sie war bis 2008 Geschäftsführerin des „Art Loss Registers“ in Deutschland, der weltweit größten privaten Datenbank verlorener und gestohlener Kunst. Seegers zufolge trägt auch der Kunsthandel Schuld daran, dass das Schwabinger Depot jahrzehntelang nicht aufflog – schließlich habe Hildebrand Gurlitts Sohn Cornelius immer wieder Bilder aus der Sammlung veräußert. „Man war wegen der Aussicht auf Profit lange Jahre geneigt, beide Augen zuzudrücken.“ Heute seien auch die Auktionshäuser bestrebt, dass die Provenienz geklärt werde.
Trotzdem wird man im Kölner Kunsthaus Lempertz noch 2011 nicht misstrauisch, als Cornelius Gurlitt das Gemälde „Löwenbändiger“ von Max Beckmann anbietet – ein Werk aus der Sammlung seines Vaters. Der Justiziar des Auktionshauses, Karl-Sax Feddersen, erinnert sich an einen reizenden und umgänglichen Herrn: „Das wirkte, als habe Herr Gurlitt als alter Mann sein Kronjuwel geholt, um für die letzten Jahre noch flüssiges Kapital zu haben.“
Jetzt erledigt die Berliner Forschungsstelle „Entartete Kunst“ die Nachprüfungen. Weit über 300 Gemälde der Sammlung sind laut Berichten des Nachrichtenmagazins Focus verschollene Werke „entarteter Künstler“. 200 stehen auf einschlägigen Vermisstenlisten.
Ob die Vorbesitzer jemals an ihre Gemälde kommen, ist dennoch

fraglich. „Selbst wenn die Museen die Bilder als enteignet angegeben haben, muss das nicht bedeuten, dass sie illegitim im Besitz von Herrn Gurlitt sind“, sagt Stephan Klingen vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte. „Es besteht die Möglichkeit, dass sein Vater für diese Bilder beim Propagandaministerium bezahlt hat – und wenn es nur Kleingeld war.“ Dann wäre die Rechtssituation immer noch die von Mai 1938 – denn die Bundesregierung habe die Gesetze nie wirklich zurückgezogen, sagt Klingen. „Es wird sehr schwer sein, die Bilder an ihre Vorbesitzer zu restituieren – auch wenn sie Privatleute sind.“ Die Tatsache, dass der Fund zwei Jahre lang hinterm Vorhang gehalten wurde, spreche ja auch dafür, dass die Rechtslage nicht so einfach einzuschätzen sei. „Sonst wäre der Posaunenschall schon viel eher zu uns gedrungen.“
Von Johannes Löhr