München hat ein Drogenproblem

München - So viele Drogentote wie im Vorjahr verzeichnet die Polizei im ersten Quartal in der Stadt: Gestern wurde das 16. Opfer dieses Jahres bekannt. Dabei geht der Konsum von Heroin weiter zurück. Wie sich das Münchner Problem erklären lässt – und was Experten jetzt fordern.
An einem Freitag Mitte Februar wurde die Sorge des Vaters zu groß. Weil sein 44-jähriger Sohn einfach nicht mehr ans Telefon ging, eilte er zu dessen Wohnung Am Hart. Er fand ihn, leblos. Ein toter Sohn, der als schlichte Nummer in einer berüchtigten Statistik zu den Akten kommt: der elfte Drogentote in diesem Jahr. Gestern, nur gut drei Wochen später, meldete die Polizei bereits Drogenopfer Nummer 16: Im Olympiapark war eine 40-jährige Frau in ihrer Wohnung gefunden worden – Opfer eines tödlichen Mixes unterschiedlichster Betäubungsmittel.
Es ist ein erschreckender Trend: Im ersten Quartal dieses Jahres sind fast drei mal so viele Menschen in München an den Folgen ihrer Drogensucht gestorben wie im Vergleichszeitraum 2014. Typisch für das neue Münchner Drogen-Problem: Fast alle starben an einem Cocktail aus synthetischem Opiat und Beruhigungsmitteln – nicht durch den berüchtigten „Goldenen Schuss“, also eine Überdosis Heroin. Und: Fast alle starben in ihrer eigenen Wohnung. Was sind die neuen Drogen, was macht die Situation in München so speziell, wie reagieren Politik und Polizei? Ein Überblick.
Die Zahlen
Seit Jahren steigt die Zahl der Drogentoten in München. 2012 waren es 35, ein Jahr später schon 42 , im vergangenen Jahr 48. Heuer könnte es noch deutlich schlimmer kommen, sollte sich der bisherige Trend fortsetzen: Bisher 16 Rauschgifttoten stehen fünf Tote im Vergleichszeitraum des Vorjahres gegenüber. Das ist keineswegs ein rein münchnerisches Problem. Im Freistaat gab es 2013 rund 230 Drogentote – der höchste Wert der ganzen Bundesrepublik.
Die Drogen
Heroin spielt in München keine große Rolle mehr. „Der Konsum sei seit Jahren rückläufig“, sagt Markus Karpfinger, der Chef des Rauschgiftdezernats bei der Münchner Polizei. Stattdessen greifen die Abhängigen zu einem bunten, gefährlichen Mix.
Andreas Czerny ist Geschäftsführer von „Prop“, einem Verein, der Jugendlichen mit Sucht-Problemen hilft. Czerny sagt, die Schwerstabhängigen-Szene in München konsumiere „so viele verschiedene Substanzen, die in der Summe und in den unkalkulierbaren Wechselwirkungen extrem gefährlich sind“. So gut wie alle verfügbaren Drogen würden genommen, teils auch mit unkonventionellen Methoden. Ein neuer Trend sind Schmerzpflaster, die mit synthetischen Opiaten getränkt sind. „Die Drogenabhängigen schneiden diese Pflaster in Streifen, kochen sie auf, ziehen es in eine Spritze und injizieren sie dann“, berichtet Czerny. Eine „waghalsige Geschichte“ sei das, denn das Opiat sei „wesentlich potenter“ als zum Beispiel Heroin. Ein falscher Mix mit anderen Substanzen könne lebensgefährlich sein. Czerny geht davon aus, dass an dem Wirkstoff Fentanyl schon „eine Menge“ Menschen gestorben sind.
Eine besonders in München beliebte Droge sind die NPS, Neue Polytoxische Substanzen. Diese synthetischen Drogen werden in illegalen Laboren hergestellt und können ganz leicht im Internet bestellt werden – angepriesen als „Kräutermischungen“, „Badesalz“ oder „Kakteendünger“. Birgit Gorgas vom städtischen Gesundheitsreferat sagt, NPS seien „die Drogen unserer Zeit“. Einer Zeit, in der Höchstleistung und Konzentration gefordert sind. Von NPS erhoffen sich Konsumenten eine aufputschende Wirkung. 10 bis 15 Euro pro Portion kosten NPS im Netz.
Versuche, dem Problem mit Verboten beizukommen, scheitern immer wieder. Grund: Ist eine molekulare Zusammensetzung verboten, ändern die Hersteller ihr Rezept. Durch die stets wechselnden Zusammensetzungen lässt sich die genaue Wirkung besonders schwer voraussagen – was wiederum im Mix mit Alkohol oder illegalen Drogen verheerende Folgen haben kann. Ob NPS alleine zum Tode führen können oder nur als Teil eines Drogen-Mixes lebensbedrohlich sind, ist wissenschaftlich noch umstritten.
Bundesweit ist die Droge schon wieder auf dem Rückzug. Nicht aber in Bayern. Eine Untersuchung der Frankfurter Universität ergab, dass das Problem im Freistaat immer noch gegeben ist. Aber warum haben Bayern und seine Landeshauptstadt ein ganz spezielles Drogen-Problem?
Die bayerische Linie
Die Frankfurter Forscher sind überzeugt, dass es in Bayern wegen des „starken repressiven Ansatzes“ in der Drogenpolitik eine Sondersituation gibt. Der Konsum von NPS ist schwer nachzuweisen. Da ist es durchaus denkbar, dass Konsumenten, die in Bayern mit schweren straftrechtlichen Konsequenzen rechnen müssen, auch deshalb zu dieser Droge greifen.
Dirk Grimm arbeitet im Präventionsprojekt „mindzone“, das vom Bayerischen Gesundheitsministerium finanziert wird. Er glaubt, dass bayerische Abhängige auch deshalb verstärkt zu den neuen Drogen greifen, weil gegen die alt hergebrachten Rauschgifte – Stichwort Heroin – stärker vorgegangen wird.
Die bayerische Linie einer vergleichsweise strengen Verfolgung von Drogendelikten hat einen weiteren Effekt: den Rückzug in Privaträume. „In München werden 80 Prozent der Drogentoten in privaten Wohnungen gefunden“, sagt der Sozialpädagoge Dirk Grimm. Das galt auch für die jüngsten vier Fälle in München. So könnten jetzt jene Stimmen wieder ernster genommen werden, die schon lange fordern, Abhängige stärker unter Aufsicht zu stellen – und das nicht im polizeilichen, sondern im pädagogischen Sinne.
Was Experten fordern
In anderen Bundesländern dürfen Abhängige illegale Substanzen in so genannten Drogenkonsumräumen legal konsumieren. Der Sozialpädagoge Dirk Grimm fordert solche Räume auch in München. „Man hätte einen besseren Überblick über den Gesundheitszustand der Konsumenten“, sagt er. Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte hätten einen Blick auf die Abhängigen. Bei einer Überdosis oder einem Zusammenbruch, argumentiert Grimm, könne man schnell helfen. Die Statistik bestätigt das: In München ist das Risiko, den Drogentod zu sterben, dreimal so hoch wie etwa in Düsseldorf und Bremen, wo es Drogenkonsumräume gibt.
Die Sicht der Polizei
Die Münchner Polizei lehnt Drogenkonsumräume weiter ab. Man könne nicht verhindern, dass auch dort gefährliche Drogen-Mixe konsumiert würden, sagt Drogendezernats-Chef Karpfinger. Zudem sei das Konzept „rechtlich problematisch“, denn Drogenkonsumräume werden nur angenommen, wenn die Polizei im direkten Umfeld nicht kontrolliert.
Hoffnung im Rathaus
Im Rathaus stößt die Idee auf offene Ohren. Der SPD-Gesundheitspolitiker Ingo Mittermaier zum Beispiel sagt: „Wenn ich weiß, dass sehr viele Drogentote in ihrer eigenen Wohnung Drogen genommen haben und nicht schnell gefunden werden, wenn die Atmung aussetzt, dann weiß ich, dass Drogenkonsumräume gerade bei diesen schwerst Abhängigen Leben retten können.“
Die alte rot-grüne Stadtratsmehrheit ist mit der Forderung nach Drogenkonsumräumen schon einmal an der Staatsregierung gescheitert. Inzwischen ist die CSU in München an der Macht beteiligt, und ihr Gesundheitsexperte Hans Theiss sagt, man müsse „ergebnisoffen diskutieren“. Auch das gute Verhältnis des neuen OB Dieter Reiter (SPD) zu CSU-Ministerpräsident Horst Seehofer hat das Klima zwischen Rathaus und Staatskanzlei merklich verbessert. Ob sich ein neuer Vorstoß für Drogenkonsumräume lohnen könne? SPD-Stadtrat Mittermaier ist kritisch. Die Staatsregierung sei in ihrer Haltung festgefahren, befürchtet er. Sein CSU-Kollege Theiss hingegen kann sich einen Vorstoß vorstellen. In der Suchthilfe warten viele auf eine Drogenpolitik, die weniger auf die harte Hand und mehr auf Hilfe setzt. Sie eint eine Hoffnung: Dass das Jahr 2015 keine weiteren traurigen Drogen-Rekorde für München bringt.
Andrew Weber